Unter Jungwählerinnen und Jungwählern ist ein Rechtsruck zu verzeichnen. Der deutsche Politikwissenschafter Michael Bröning bemerkt im Gastkommentar, dass Wahlerfolg nicht demografisch vorbestimmt sei.

Bild nicht mehr verfügbar.

Emmanuel Macron lag im ersten Wahlgang nur bei den Wählerinnen und Wählern ab 65 vorne.
Foto: AP / Laurent Cipriani

Jahrzehntelang galt die Linksneigung junger Leute als ein eisernes Gesetz der Politik. "Wer mit 40 kein Konservativer ist, hat kein Hirn", lautet ein vermutlich zu Unrecht Winston Churchill zugeschriebenes Zitat, "aber wer mit 20 kein Linker ist, hat kein Herz." Von John F. Kennedy, Bill Clinton und Tony Blair bis hin zu Barack Obama und Jacinda Ardern haben Linke ihre politischen Karrieren regelmäßig auf dem Versprechen eines jugendlichen Progressivismus aufgebaut.

"In Frankreich, so scheint es, sind die Kids nicht d'accord."

Dieses Muster ist kulturell derart tief verwurzelt, dass es weitgehend als selbstverständlich betrachtet wird. Doch legen die Wahlergebnisse in vielen westlichen Demokratien in letzter Zeit eine deutlich andere Dynamik nahe. In der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen in diesem Monat lag Emmanuel Macron (27,85 Prozent) nur sehr knapp vor der Rechtspopulistin Marine Le Pen (23,15 Prozent). Sein Erfolg beruhte nicht so sehr auf der Leidenschaft der jungen als auf der Vorsicht – und Besorgtheit – der älteren Wählerinnen und Wähler.

Wahlanalysen zeigen, dass Macron nur in einer Altersgruppe deutlich vorne lag: bei den Wählerinnen und Wählern ab 65. In der Altersgruppe der 25- bis 49-Jährigen lag Le Pen vor ihm. Und während der weit links stehende Kandidat Jean-Luc Mélenchon etwas mehr als ein Drittel der Jungwählerstimmen auf sich vereinen konnte, erhielten Le Pen und der andere rechtsextreme Kandidat, Éric Zemmour, zusammen die Unterstützung von beispiellosen 22 Prozent der Erstwählenden. Bei den Wählerinnen und Wählern zwischen 25 und 34 Jahren stieg die Unterstützung für die extreme Rechte auf über 35 Prozent. In Frankreich, so scheint es, sind die Kids nicht d'accord.

Ähnliche Trends in Italien, Spanien, Deutschland

Ein ähnlicher Trend scheint sich derzeit in ganz Südeuropa zu entfalten; auch unter Jungwählerinnen und Jungwählern in Italien und Spanien ist ein dramatischer Rechtsruck zu verzeichnen. Die rechtspopulistische spanische Partei Vox hat sich in kurzer Zeit als drittstärkste politische Kraft des Landes etabliert. Das liegt nicht so sehr an der Unterstützung durch stereotypische ewiggestrige 70-Jährige als an der durch unzufriedene, überwiegend männliche und weniger gebildete Jungwählerinnen und Jungwähler.

In Italien unterstützen mehr als die Hälfte der Jungwählerinnen und Jungwähler derzeit Rechtsparteien wie die Partei des früheren stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini, Fratelli d'Italia, die Lega und die Partei von Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi, Forza Italia. Selbst in den wohlhabenden Ländern Schweden und Deutschland scheint die natürliche Identifizierung der Jungen mit progressiven Parteien zu enden. Jüngste Meinungsumfragen in Schweden zeigen "keine klaren Altersunterschiede" bei den Anhängern der rechtsextremen Schwedendemokraten; das heißt, jüngere Wählerinnen und Wähler geben diesen mit derselben Wahrscheinlichkeit ihre Stimme wie ältere. Während die Schwedendemokraten immer einen Anteil junger, überwiegend männlicher Wähler hatten, ist ihre Unterstützung unter den Wählern zwischen 18 bis 24 Jahren von sieben Prozent im Jahr 2014 auf 11,8 Prozent im November 2021 gestiegen.

In ähnlicher Weise war bei der Bundestagswahl in Deutschland im letzten Jahr die wirtschaftsfreundliche FDP der überraschende Favorit der Erstwählerinnen und Erstwähler und schlug sogar die Grünen. Und bei den jüngsten Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern erzielte die rechtsextreme Alternative für Deutschland unter jungen Leuten eine beispiellose Unterstützung. In Sachsen-Anhalt erzielte die Partei bei den unter 30-Jährigen und auch in der Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen den größten Anteil der Stimmen. Die Frage ist nun, ob sich bei der Landtagswahl im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen ein ähnlicher Trend fortsetzen wird.

Wirtschaftliche Interessen

Natürlich hat sich dieses Muster, bei dem sich die jungen Leute von der Linken abwenden, bisher noch nicht allgemein durchgesetzt. In Großbritannien und den USA bleiben die Jüngeren alles in allem weiterhin den progressiven Parteien verbunden. Es wird erwartet, dass die Demokraten bei den Zwischenwahlen im Herbst ihren Einfluss auf die jüngeren Wählerinnen und Wähler klar aufrechterhalten werden. Während die Hälfte der Wählenden ab 65 in ihren jeweiligen Wahlkreisen die Kandidatinnen und Kandidaten der Republikaner unterstützen, sinkt dieser Wert bei den unter 30-Jährigen auf 29 Prozent.

Die anhaltende Verbundenheit jüngerer US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner mit den Demokraten könnte auch durch eine speziell auf ihre wirtschaftlichen Interessen zugeschnittene Politik bedingt sein. Führende demokratische Politiker haben sich im Wahlkampf für den Erlass von Studierendenkrediten und für robustere Formen der Umverteilung zur Verringerung der wirtschaftlichen Ungleichheit ausgesprochen.

"Wahlerfolg ist nicht demografisch vorbestimmt."

Doch während die progressiven Parteien weltweit diesen Erfolg zur Kenntnis nehmen sollten, bedeutet das nicht, dass sie die Lehren der jüngsten Wahlen anderswo ignorieren können. Auch wenn die Progressiven in vielen westlichen Ländern im Allgemeinen weiterhin vor den Rechten liegen, verschiebt sich die Dynamik. Die aktuellen Trends sind eine deutliche Erinnerung daran, dass Wahlerfolg nicht demografisch vorbestimmt ist.

Wie die älteren Wählerinnen und Wähler auch werden die Jungwählerinnen und Jungwähler letztlich die Kandidatinnen und Kandidaten unterstützen, die überzeugende Lösungen für die Probleme anbieten, die in ihrem eigenen Leben am dringlichsten sind. Gelingt es den progressiven politischen Bewegungen nicht, diese grundlegende Vorgabe zu erfüllen, könnten sie ihren langjährigen Vorteil in dieser Wählergruppe durchaus einbüßen. Die Vorstellung, dass junge Leute sich immer für die Progressiven entscheiden werden, wird zu einem Mythos statt zu einem verlässlichen Modell werden. (Michael Bröning, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 23.4.2022)