Zum Schluss von "Schwanensee" richten sich überdimensionale Stoffschwäne auf.

Foto: Michael Loizenbauer

Es tut sich etwas in Österreichs Tanzszene! Erstens hat das Tanzquartier Wien eine eigene Kompanie gegründet, die am Wochenende mit einem Stück des in Berlin lebenden Wieners Ian Kaler ihren Einstand gab. Und zweitens läuft seit Samstag im Linzer Musiktheater eine große zeitgenössische Interpretation des Ballettklassikers "Schwanensee" von Chris Haring. Der geborene Burgenländer zählt mit Florentina Holzinger zu den spannendsten Figuren im heimischen freien Tanz.

"Schwanensee", war da nicht etwas? Richtig. Die Südafrikanerin Dada Masilo löste vor ein paar Jahren in Wien Jubel mit ihrer Sicht auf "Swan Lake" aus. Und Martin Schläpfers moderne Version hätte vor zwei Jahren im Festspielhaus St. Pölten gezeigt werden sollen, aber Corona hat das Stück ins Fernsehen gekickt. Außerdem war erst vergangenen März Rudolf Nurejews Fassung des Klassikers in der Staatsoper zu sehen. Der Ukrainekrieg lieferte die traurige Aktualität dazu.

Dämonischer Rotbart

Als Putin-hafter Bösewicht in der Erzählung dieses romantischen Handlungsballetts hält der Zauberer Rotbart die Schwanenprinzessin Odette gefangen. In diese verliebt sich ein gewisser Prinz Siegfried, doch der dämonische Rotbart taucht sie durch den von ihm geschaffenen Klon Odile aus. Als finsterer Fetisch täuscht die Odile den Siegfried, was den tragischen Verlauf der Geschichte – zumindest in Nurejews Fassung – besiegelt.

Chris Haring lässt den ganzen Plot des Balletts beiseite – es gibt keine Charaktere wie Odette, Odile oder Rotbart – und konzentriert sich ganz auf das Thema Täuschung. Dabei verwendet er zwar, mit ganz wenigen Veränderungen, Tschaikowskis populäre Originalmusik (es spielt live und schnell das Bruckner Orchester Linz), doch in Tanz und Inszenierung dominiert ganz die medial und politisch manipulierte Realität unserer Gegenwart.

Science Fiction

Auf das Dilemma zwischen Schein und Sein baut Haring mit seiner Gruppe Liquid Loft seit vielen Jahren in unterschiedlichen Facetten sein gesamtes Werk: zwischen Science-Fiction, Pop Art, digitalen Gespenstern und gleißendem Entertainment. In diesen Kontext baut er auch "Schwanensee" ein.

Das Ensemble des Balletts im Linzer Landestheater macht dabei großartig mit. Es tanzt in wechselnden Kostümen und baut immer wieder possenhafte Tableaux vivants ein. Das Licht dazu erzeugt traumähnliche Stimmungen etwa zwischen cremigem Gelb, Lila und überirdischem Blau. Und während entscheidender Passagen flimmern gespenstische Videos im Hintergrund.

An etlichen dramatischen Stellen lassen die Tänzerinnen und Tänzer die Musik in Leere laufen. Ganz so, als stünden sie über den Allüren des Originals und den Verhängnissen in der Erzählung. Hier zeigt sich die Tragik unserer Trugbilder: In Zeiten von Metaverse und digitaler Kontrolle ist bei uns ein Rotbart überflüssig. Wir begeben uns freiwillig in Geiselhaft.

Stoffschwäne

Zum Schluss von "Schwanensee" richten sich zwei überdimensionale Stoffschwäne auf. Dieser Gag ist aber auch die einzige Banalität in dem ansonsten brillanten Stück. Eine ähnliche Plattitüde leistete sich Ian Kaler am Schluss seiner Choreografie "Ecto-Fictions": Er hängte eine kurze Mode-Demonstration an das Stück, in dem es eigentlich um das menschliche Verhältnis zu Pferden geht.

Sanft wurde damit die kleine Kompanie des Wiener Tanzquartiers vorgestellt, die auf den pilzfreundlichen Namen Parasol hört. Die erste Produktion der fünfköpfigen Gruppe erinnerte daran, dass der Choreograf die Rösser liebt. Dies hatte er bereits 2010 mit "Save a horse, ride a cowboy" bewiesen, seiner Debütperformance, deren Dringlichkeit Kalers internationale Karriere einleitete.

Vogelstimmen und Hufgetrampel

Die "Ecto-Fictions" sind nun sensibler, aber auch durchwachsen von einer entrückten Trägheit. Zur sphärisch nebeligen Musik von Hermione Frank aka rRoxymore empfängt das Quintett von adrett gekämmten Gäulchen aus Hintergrundvideos rätselhafte Blicksignale, die es alsbald zu Boden sinken und dort auch lange bleiben lassen.

Keine Frage, das Zusammenspiel von zarten Körperlichkeiten, Vogelstimmen und Hufgetrappel, sanft gedimmtem Licht und dem minimalistischen Bühnenset von Stephanie Rauch vermittelt eine tröstliche Verträumtheit. Das Stück zeugt von einem Willen, kontroverse Würzen der Realität – wie zum Beispiel die des gemeinen Rossapfels – auszublenden. (Helmut Ploebst, 24.4.2022)