Martin Sajdik sieht in Russland eine kollektive Fehleinschätzung des Nachbarlands Ukraine.

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Der Konflikt im Donbass rund um die "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk gilt als eine Keimzelle von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Die Minsker Vereinbarungen von September 2014 (Minsk I) und Februar 2015 (Minsk II) machten Hoffnung auf einen Weg aus der Krise, wurden aber letztlich nie umgesetzt. Der Spitzendiplomat Martin Sajdik war als Sondervertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) an vielen Verhandlungen der Konfliktparteien beteiligt.

STANDARD: Was waren Ihre ersten Gedanken, als vor zwei Monaten der russische Angriff auf die Ukraine begann?

Sajdik: Genau zwei Wochen vorher war ich in Moskau, und ich bin mit dem Gefühl zurückgekommen, dass es nicht zu Kampfhandlungen kommen wird. Das war offensichtlich auch das, was meine Gesprächspartner dort gedacht haben. Es waren auslandsorientierte Menschen, Diplomaten, Wissenschafter. Inwieweit sie die Entwicklung einfach nicht wahrhaben wollten, kann ich aber nicht beurteilen.

STANDARD: Hat das auch mit einem falschen Bild von der Ukraine in Russland zu tun?

Sajdik: Ich glaube, dass die meisten Leute in Russland, mit ganz wenigen Ausnahmen, die Ukraine nie richtig eingeschätzt haben. So ein kollektives Irren, auch Wissender, ist für mich bis heute ein in sich ruhendes Phänomen. Das betrifft das Unterschätzen von Präsident Selenskyj genauso wie das Nichternstnehmen der ukrainischen Militärkraft und des Verteidigungswillens: All das wurde in Russland kollektiv übersehen.

STANDARD: Putin vertritt die These, Russen und Ukrainer seien ein gemeinsames Volk. Nun greift er einen Teil dieses Volks an. Liegt darin der fundamentale Widerspruch dieses Kriegs?

Sajdik: Ja, wie können 40 Millionen Ukrainer sich so irren, dass sie "denazifiziert" werden müssen? Wenn man wie ich viereinhalb Jahre lang in der Ukraine gelebt hat und als Österreicher auch weiß, was die Nazis waren, dann fragt man sich schon: Warum glauben die Russen, dass das in der ukrainischen Politik und Gesellschaft ein Phänomen ist? Woher haben sie das? Parteien am rechten Rand spielen in der ukrainischen Politik in den letzten Jahren fast keine Rolle!

STANDARD: Wenn wir schon bei den Fehleinschätzungen sind: Gab es die in Russland auch bezüglich der relativ starken Einigkeit des Westens?

Sajdik: Ja, das haben sie überhaupt nicht vorhergesehen. Aber auch wir nicht.

STANDARD: Sie haben als OSZE-Sondervertreter an der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen gearbeitet, die den Donbass-Konflikt beilegen sollten und letztlich gescheitert sind. Woran lag es?

Sajdik: Die Minsker Vereinbarungen muss man im Kontext sehen: Sie sind nach – beziehungsweise im Zusammenhang mit sich abzeichnenden – militärischen Niederlagen der Ukraine zustande gekommen. Bei Minsk II steht gleich in Artikel 1, dass am 15. Februar 2015 um 12 Uhr eine Waffenruhe in Kraft tritt. Und diese Waffenruhe hat es nicht gegeben, weil die Ukrainer genau zu dieser Zeit aus Debalzewe brutal vertrieben wurden. Der damalige ukrainische Präsident Poroschenko ist am 12. Februar 2015 mit einem Abkommen nach Hause gekommen, dessen erste Sätze drei Tage später der Realität bereits nicht mehr entsprochen haben. Für ihn war das eine manifeste Niederlage, aus der sich seine grundsätzlich negative Einstellung zu diesem Abkommen entwickelt hat. Und die Ukrainer haben sich hinterher zu wenige Gedanken darüber gemacht, wie sie das Abkommen trotzdem in ihrem Sinne umsetzen könnten.

STANDARD: Wie reagierte Russland?

Sajdik: Die Russen haben ihnen genau dafür immer wieder Argumente geliefert. Sie sind etwa offen für eine Autonomie des Donbass und eine Föderalisierung der Ukraine eingetreten, obwohl diese Begriffe in den Minsker Vereinbarungen gar nicht drinstehen. Es ist dort nur von Sonderstatus und Dezentralisierung die Rede. Die Ukrainer konnten also immer wieder sagen: Die Russen wollen ja etwas ganz anderes als das, was vereinbart wurde. Dabei ging es den Russen darum, dauerhaften Einfluss auf die Außenpolitik der Ukraine zu nehmen und das Land politisch zu schwächen.

STANDARD: Hat Ihre Mission trotz dieser Schwierigkeiten greifbare Ergebnisse gebracht?

Sajdik: Wir haben immer wieder Verhandlungserfolge erzielt, etwa bei Entflechtungszonen, bei der Entminung oder beim Abzug schwerer Waffen. Das Problem war die Umsetzung. Als OSZE hatten wir ja nicht die Möglichkeit, diese zu erzwingen. Im Wesentlichen haben wir uns auf den Schutz der Zivilbevölkerung konzentriert. Und wenn man heute die Brutalität dort sieht, dann kann man im Rückblick verstehen, warum das der Zivilbevölkerung damals wirklich geholfen hat.

STANDARD: Was wurde konkret erreicht?

Sajdik: Wir konnten immer wieder Feuerpausen organisieren und andere Vereinbarungen treffen – auch wenn sie oft nur eine oder zwei Wochen gehalten haben. Aber das Resultat war: weniger zivile Opfer. 2019 zum Beispiel hat erstmals kein Kind konfliktbedingt sein Leben verloren. Darauf waren wir stolz.

STANDARD: Worum geht es Putin jetzt? Immer noch um den Donbass? Um die gesamte Ukraine? Um den großen Konflikt mit dem Westen?

Sajdik: Es stimmt von allem etwas. Daher bekommt man auf diese Frage auch keine Antwort. Selbst wenn das Ganze vorbei sein wird, werden wir immer noch nach Antworten suchen. Und nicht nur wir: Auch die Russen und die Ukrainer werden sich diese Frage weiterhin stellen, sie wird noch für Jahrzehnte eine Belastung sein. Putin selbst hat sich jedenfalls alle Optionen offengelassen, um die Aktion letztlich als Erfolg darzustellen. Ob die russische Gesellschaft ihm das abnimmt, ist eine andere Frage. Wer sagt heute bei Umfragen in Russland schon die Wahrheit? Ich weiß nicht, ob die Umfragen über die Popularität des Kriegs stimmen.

STANDARD: Wie sehen Sie das von Russland unter anderem proklamierte Ziel einer Neutralität der Ukraine?

Sajdik: Man muss sich einmal rein technisch überlegen, was das für ein Vertrag wäre – mit allen ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats als Garantiemächten. Lassen Sie da mal Völkerrechtler aller beteiligten Staaten drüber! Es wäre ein wesentliches, determinierendes Vertragswerk darüber, wie es in Osteuropa, in Russland und in der Ukraine weitergehen soll – ein Dokument à la Staatsvertrag oder deutscher Wiedervereinigungsvertrag. Und es würden wohl auch Themen wie Reparationen in den Vertragsverhandlungen angesprochen werden – eine schwierige Sache unter diesen Umständen und mit den beteiligten Parteien und Garantiemächten.

STANDARD: Und es ist offen, was Garantiemacht konkret bedeuten würde.

Sajdik: Eben, auch das müsste noch genau definiert werden: Was umfasst diese Garantie genau? Und was garantiert eigentlich Russland?

STANDARD: Gibt es trotzdem eine Chance für die Diplomatie?

Sajdik: Diplomatie findet immer statt. Der Besuch Nehammers in Moskau war Diplomatie, und wenn Macron Putin anruft, so sind auch das diplomatische Bemühungen. Es gibt immer wieder Versuche, etwas Positives beizutragen. Jetzt – meiner Ansicht nach viel zu spät – schaltet sich auch UN-Generalsekretär Guterres ein. Man soll Diplomatie nicht darauf beschränken, dass am Schluss ein Vertrag herauskommt. Es ist nicht nur die Arbeit von ein paar Völkerrechtlern. Auch Mediation ist Diplomatie und muss nicht unbedingt von Diplomaten durchgeführt werden. Wann all das erfolgreich sein wird, weiß ich nicht. Aber wenn das vorher erwähnte Vertragswerk angestrebt wird, so wird das ein unglaublicher Brocken. (INTERVIEW: Gerald Schubert, 25.4.2022)