Im Gastblog denkt der Jurist Johannes Pepelnik die Straßenverkehrsordnung hinsichtlich Nachhaltigkeit neu.

Der Großteil der CO2-Emissionen in der EU, aufgeteilt nach Sektoren, wird vom Verkehrsbereich verursacht. Während die Bereiche Wohngebäude, Industrie, Energie und Land- und Forstwirtschaft und Fischerei allesamt insgesamt über die letzten Jahrzehnte einen abnehmenden CO2-Emissionsbedarf hatten, steigt derselbe im Verkehrsbereich unvermittelt an. Differenziert man innerhalb des Verkehrsbereichs nach den Verkehrsträgern, also wer hier welche Emissionen verursacht, sind zu 60,7 Prozent Autos, 11,9 Prozent leichte Nutzfahrzeuge, 26,2 Prozent Schwerlastwägen und 1,2 Prozent Motorräder die Verursacher der Emission:

Foto: Europäische Umweltagentur/https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/society/20190313STO31218/co2-emissionen-von-autos-zahlen-und-fakten-infografik

Die Straßenverkehrsordnung regelt grundsätzlich das Zusammenleben der Verkehrsteilnehmer auf den Verkehrsflächen. Die Straßenverkehrsordnung bildet damit die Grundlage für das Verhalten der Verkehrsteilnehmer und bestraft das Verhalten bei Verkehrsübertretungen, und ein solches Übertreten der Verkehrsregeln bildet gleichzeitig ein wesentliches Element bei der Lösung der Verschuldensfrage im Zivilrecht bei Verkehrsunfällen.

Allerdings finden sich in der geltenden Straßenverkehrsordnung weder Anreize, sich klimaschonend und emissionssparend fortzubewegen, noch solche, die eigene Gesundheit zu fördern beziehungsweise alternative Fortbewegungsmittel in Erwägung zu ziehen. Dies alles vor dem Hintergrund, dass beispielsweise in den Niederlanden Jugendliche im Schnitt 2.000 Kilometer pro Jahr Rad fahren und diese zu den gesündesten weltweit zählen.

Hier sieht man eine typische Verkehrssituation in Amsterdam, die zeigt, wie einfach es gehen könnte. Hierbei handelt es sich um die Einfahrt zu einer Fahrradstraße durch einen Park. Deutlich zu sehen ist, dass sich schnellere Verkehrsteilnehmende wie die Joggerin bei den Radfahrern einordnen und wie alle Radfahrer in einer vorgezogenen Bikebox auf "grün" warten. Video: Pepelnik.

Vertrauensgrundsatz, aber mit Nachhaltigkeitszielen

Die Straßenverkehrsordnung kennt in ihrem § 3 als Zielbestimmung lediglich den Vertrauensgrundsatz, der kurz zusammengefasst bedeutet, dass die Teilnahme am Straßenverkehr ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme erfordert, dessen ungeachtet jedoch jeder Straßenbenützer darauf vertrauen darf, dass andere Personen die für die Benützung der Straße maßgeblichen Rechtsvorschriften befolgen. Ausgenommen hiervon sind lediglich Kinder, Menschen mit Sehbehinderung beziehungsweise Menschen mit offensichtlicher körperlicher Beeinträchtigung.

Gegenüber der letzten Personengruppe gilt der Vertrauensgrundsatz nicht, und die Verkehrsteilnehmer haben ihre Fahrgeschwindigkeit zu vermindern und durch jederzeitige Bremsbereitschaft sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung dieser Personen ausgeschlossen ist. Allerdings kennt die Straßenverkehrsordnung keinerlei Verhaltensanforderungen im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsziele.

In der Straßenverkehrsordnung fehlt ein bewusstseinsbildendes Reglement für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele, insbesondere im Hinblick auf Ressourcenverbrauch und Kreislaufwirtschaft. Die Straßenverkehrsordnung bevorzugt keine die Umwelt schonenden Verkehrsteilnehmer und nimmt keine Rücksicht darauf, von welchem Verkehrsteilnehmer wie viel Fläche im öffentlichen Raum eingenommen wird. Dessen ungeachtet ist das Verkehrsrecht allerdings Teil des Klima- und Umweltschutzes. Die Straßenverkehrsordnung nimmt allerdings keinen Bezug darauf, ob beispielsweise der Verkehr Lärm verursacht, Ressourcen vergeudet oder die Gesundheit gefördert hat.

Hierbei handelt es sich um die Fahrrad-Durchfahrt eines Parks in Amsterdam. Deutlich zu sehen ist, dass hier teilweise in drei Spuren nebeneinander Fahrrad gefahren wird, gleichzeitig wird gelaufen. Video: Pepelnik.
Die Fahrradstraße hat keine Begrenzungen (Mittellinie), wer wo laufen oder Radfahren soll, kann, darf oder muss. Die Fahrradstraße ist beleuchtet. Video: Pepelnik.

Schutzwürdige Umwelt

In einer klimaschonenden Straßenverkehrsordnung sollte demnach die Schutzwürdigkeit auch nach dem Umwelteingriff geordnet werden. Demnach müssten nach den zuvor genannten schutzbedürftigen Personengruppen Fußgeher an erster Stelle stehen, gefolgt von beispielsweise Radfahrenden, die die eigene Kraft aufwenden, um sich fortzubewegen, gefolgt von elektrisch unterstützten Radfahrern oder E-Scooter-Fahrern, diese wiederum gefolgt von Mopeds beziehungsweise Motorrädern, gefolgt von Kraftfahrzeugen, schweren Kraftfahrzeugen, Lkws und Bussen. Diskutabel wäre noch die Einordnung von Sammeltaxis und öffentlichen Verkehrsmitteln.

Eine dem Umweltgedanken Rechnung tragende Straßenverkehrsordnung würde die Verkehrsteilnehmer, die die Umwelt belasten, schlechter stellen als solche, die die Umwelt entlasten, dies beispielsweise nach den Kriterien des Lärms, des Ressourcenverbrauchs, des Gesundheitsnutzens und so weiter.

Ampelsituation in Amsterdam: Zunächst ist rechts oben die Fahrradampel zu sehen, die auf eine extra Schaltung der Ampel für Fahrradfahrer hinweist. Nach dem Überqueren der Kreuzung wird der Radweg nur für Radfahrer fortgesetzt und ist durch versenkbare Poller geschützt. Video: Pepelnik.

Diese Kriterien müssten in der Folge dann bei der Planung der Straßen, in der Platzverteilung Raum greifen sowie in den Verkehrsstrafen, bei Verschuldensfragen im Zusammenhang mit einem Unfall sowie bei der Routenwahl. Beispielsweise müsste es einem motorisierten oder unterstützten Verkehrsteilnehmer jederzeit zumutbar sein, einen größeren Umweg zu fahren als ein Fußgeher oder Radfahrer, der sich aus eigener Kraft fortbewegt.

Beispiel für die Raumverteilung: Diese Fahrradstraße wird in einer Fußgängerzone exklusiv für Radfahrer geführt. Die entgegenkommende Fahrradfahrerin transportiert ihren Hund in einem vorderen Korb. Das rechts Abbiegen mit kleinem Nachrangschild sowie den Radwegweisern für Radfahrer und die dann größere Straße zeigen den gemischten Verkehr mit Straßenbahn und die dortige Platzverteilung zwischen öffentlichem, motorisiertem und Fahrradverkehr. Video: Pepelnik.

Verkehrsregeln nach Grund und Fahrtlänge

Es müsste also ein Weg gefunden werden, weg von einer gegenseitigen Rücksichtnahme hin zu einer Bevorzugung beziehungsweise Belohnung für klimafreundliches und umweltgerechtes Verkehrsverhalten. Somit müsste bei jeder Verkehrsregel die Frage nach dem Grund und der Länge der Fahrt sowie der Wahl des Verkehrsmittels mit berücksichtigt werden. Dies auch vor dem Hintergrund, dass weniger als fünf Kilometer lange Fahrten grundsätzlich mit einem umweltgerechten Verkehrsmitteln zurückgelegt werden könnten.

Im Rahmen der Verkehrsgebote müssten dann systemimmanent Überholverbote für umweltschädlichere Verkehrsteilnehmer eingeführt werden, könnten Rechtsabbiege-Erlaubnisse für klimaschonende Verkehrsteilnehmer angedacht werden sowie Regelungen, wie dass der Langsamste und Klimafreundlichste grundsätzlich Vorrang hat.

Bei Verkehrsübertretungen müsste das Belohnungssystem dahingehend geändert werden, dass die jeweils geringste Umweltbelastung eine niedrigere Strafe nach sich zieht als ein die Umwelt stärker belastender Verkehrsteilnehmer. Weiters sollte hier miteinbezogen werden, was der Zweck der Fahrt gewesen ist beziehungsweise, ob diese einen Gesundheitsnutzen gehabt hat oder nicht. Als Leitungselemente sollten nicht mehr die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrsflusses herangezogen werden, sondern die oben dargestellten Parameter inklusive einer Kreislaufwirtschaftsanforderung.

Neu gedachtes Verkehrsrecht

Wie auch bereits in einem früheren Blogbeitrag dargelegt, stellt sich die Straßenverkehrsordnung in vielen Teilbereichen eher als Fahrradverhinderungsverordnung dar denn als eine klimaschonendes Verhalten belohnende Verordnung.

Neu gedachtes Verkehrsrecht müsste dann als Querschnittsmaterie eine umweltschonende Nutzung des öffentlichen Raums aufgreifen und nicht als Spielregel für einen Kampfplatz verschiedener Verkehrsteilnehmer. Angesetzt werden müsste beispielsweise im Steuerrecht, um eine Gerechtigkeit hinsichtlich der Förderungen, Beihilfen und Umsatzsteuer hinsichtlich der unterschiedlichsten Mobilitätsarten herzustellen. Die Raumordnung müsste die Flächenverteilung und Flächenwidmung jedenfalls aufgreifen. Im ORF-Gesetz müsste verankert werden, dass hinter jeder Staumeldung eine Nachricht mit den alternativen Wegen angegeben wird, beispielsweise ob die öffentlichen Verkehrsmittel auch genauso lange benötigen oder nicht.

Im Führerscheingesetz sollte eine Nachschulung verpflichtend eingeführt werden, auf Antrag eines anderen Verkehrsteilnehmers. Im Schulrecht müssten die Auswirkungen von Mobilitätsverhalten Lerninhalt werden und in die Benotung einfließen, und es müsste mehr Bewegung unterrichtet werden. Im Beamtendienstrecht müsste die Vorbildwirkung der Beamten insbesondere im Hinblick auf klimaschonendes Verhalten festgelegt werden.

Im Arbeitsrecht sollten zusätzliche Urlaubstage und die Berücksichtigung von Gesundheitsnutzen ein Anreizsystem schaffen, sich klimaschonend fortzubewegen. In technischer Hinsicht sollte die öffentliche Hand beispielsweise bei Ampelschaltungen verpflichtet werden, technisch Mögliches unverzüglich umzusetzen, so auch grüne Wellen, Bedarfsampeln, gelb blinkend an Wochenenden, für klimaschonende Verkehrsteilnehmer.

Im Hinblick auf eine Zielbestimmung eines Bundesgesetzes gibt es im Immissionsschutzgesetz-Luft (IG-L) eine vergleichbare Regelung, die als Vorbild dienen könnte, um auch einer Straßenverkehrsordnung vorweggestellt zu werden. Im IG-L ist für die Reinhaltung von Luft das Ziel des Bundesgesetzes dadurch bestimmt, dass der dauerhafte Schutz der Gesundheit des Menschen, des Tieres und des Pflanzenbestands und ihre Lebensräume vor schädlichen Luftschadstoffen sowie der Schutz des Menschen vor unzumutbar belästigenden Luftschadstoffen angeordnet wird. Dies wird noch flankiert durch die vorsorgliche Verringerung der Immissionen und die Bewahrung der besten, mit nachhaltiger Entwicklung verträglichen Luftqualität. (Johannes Pepelnik, 27.4.2022)