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Marine Le Pen unterlag zwar dem Amtsinhaber im Präsidentschaftsrennen in Frankreich – aber sie erzielte dabei einen Höchstwert.

Foto: REUTERS/YVES HERMAN

Die Wahl ist geschlagen, Emmanuel Macron residiert weitere fünf Jahre im Élysée-Palast, dem Amtssitz des französischen Präsidenten. Doch die Probleme, sie bleiben. Von Himmel gefallen ist Marine Le Pens Achtungserfolg – fast 42 Prozent der Französinnen und Franzosen haben der Rechtsextremistin ihre Stimme gegeben – schließlich nicht. Warum haben sich mehr als 13 Millionen Menschen für sie entschieden? Oder haben sie sich etwa gar nicht für sie, sondern gegen Macron entschieden?

  • Protest gegen "die da oben": Obwohl Marine Le Pen als Berufspolitikerin und Tochter von Parteigründer Jean-Marie Le Pen selbst zur Elite der politischen Klasse zählt, gelang es ihr, sich als Kandidatin der "normalen Französinnen und Franzosen" darzustellen, der die Probleme auf dem Land und in den Ballungsräumen nicht fremd sind. Macron, der ehemalige Eliteschüler und Investmentbanker, wird vielfach als arrogant und abgehoben wahrgenommen – ein Indiz dafür sind auch die Nichtwähler, deren Prozentzahl mit 28 Prozent so hoch wie seit 1969 nicht mehr ist. Der "republikanische Schutzwall" gegen rechts außen, auf den Macron wie schon 2017 und Jacques Chirac 2002 hoffen durfte, bröckelt.
  • Die Jungen fremdeln nicht mehr so: Wie in anderen europäischen Ländern auch laufen in Frankreich den gemäßigten, traditionellen Parteien die Jungen davon. Zahlen des Umfrageinstituts Ipsos zufolge verdankt Macron seinen Sieg vor allem der Generation 70+, 71 Prozent haben sich dort paradoxerweise für den jüngsten Präsidenten der Fünften Republik entschieden, bei den jungen Berufstätigen der Alterskohorte zwischen 25 und 34 waren es am Sonntag gerade einmal 51 Prozent. Le Pen galt vielen dieser Generation als "Anti-System"-Kandidatin – nach dem Motto: Schlimmer kann es nicht werden. Macrons Lack ist in den Augen vieler Wählerinnen und Wähler ab: Galt er 2017 noch als Außenseiter, gilt er vielen nun geradezu als Sinnbild des etablierten Politikers alter Schule.
  • "Entdämonisierung" ist geglückt: Seit 2011, als Marine Le Pen den Front National von ihrem Vater – mit dem sie mittlerweile tief zerstritten ist – übernahm, bemühte sie sich mit aller Kraft um eine Neupositionierung der für viele unwählbar rechtsextremen Partei: Holocaust-Leugnern und allzu offenen Rassisten wies sie die Tür; anstatt Frankreich bei erster Gelegenheit aus der EU zu führen, will sie nun darüber erst einmal abstimmen lassen. Und anstatt wütende Reden gegen Einwanderer zu schwingen, widmet sie ihre Rhetorik nun dem "französischen Arbeiter", dessen Wohlergehen sie sich annehmen wolle. Dass sich Neueinsteiger Eric Zemmour kein Blatt vor den Mund nahm, was rassistische Ausfälle betrifft, spielte Le Pen in der ersten Runde in die Karten. Hinter diesem Facelifting verbergen sich bei näherer Betrachtung ihres Programms freilich sehr wohl die alten Versatzstücke ihrer rechtsextremen Wurzeln. Bloß: Marine Le Pen ist es geschickt gelungen, den Diskurs weg von diesen Minenfeldern zu führen und heikle Themen, etwa die tatsächlich großen Probleme in den Einwanderervierteln der französischen Vorstädte, weitgehend auszusparen. Fast hätte sie ihr Kuschelkurs in den Élysée geführt.
  • Zerbröselung der Traditionsparteien: Sowohl die Konservativen von Valérie Pécresse als auch die Sozialisten um Anne Hidalgo erlebten in der ersten Runde ihr Waterloo. Binnen zehn Jahre sind sie von 56 Prozent 2012 auf sechs Prozent 2022 abgestürzt. Le Pen wusste dieses Vakuum geschickt zu nutzen. Nicht nur gelang es ihr, thematisch im Teich der alten Großparteien zu fischen, auch in puncto Aufmerksamkeitsökonomie konnte sie punkten. Seit der Stern Eric Zemmours vor dem ersten Wahlgang verglühte, war es "Marine", der die volle Beachtung der Medien zuteilwurde. Macron, dessen Partei La République en Marche nun bei der Parlamentswahl im Juni nachlegen muss, agiert zunehmend als One-Man-Show. Was passiert, wenn er in fünf Jahren die Bühne verlässt, ist unklar. Gut möglich, dass dann die Stunde der Rechten schlägt. (Florian Niederndorfer, 25.4.2022)