"Bei den Preisen gibt es viel Luft nach unten", sagt Ökonom Stephan Schulmeister. Im Gastkommentar nimmt er auch Einzelhandelsketten in die Pflicht.

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Auch beim täglichen Einkauf macht sich die Inflation bemerkbar. 6,8 Prozent betrug die Teuerung im März. Das ist der höchste Wert seit November 1981.
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Die Hauptursache der hohen Inflation ist die massive Verteuerung von Energie, Nahrungsmitteln und Wohnen. Dahinter stecken Verteilungskämpfe zwischen den Besitzern (kurzfristig) nicht vermehrbarer Güter – von Öl- und Gasfeldern bis zu Immobilien – und den Haushalten und Unternehmen. Die Extraprofite, welche aus dem Besitz knapper Vermögen resultieren, nennt man "Rente". Im Finanzkapitalismus stellt ihre Höherbewertung eine zusätzliche Profit- und Inflationsquelle dar.

Der Markt versagt bei der Steuerung von Produktion und Verteilung solcher Güter: Erstens, sie sind – zumindest kurzfristig – nicht vermehrbar. Zweitens, Herstellung und Verbrauch beschädigen die Umwelt. Drittens, ihre Verteuerung verschlechtert die soziale Lage der Schwachen besonders stark. Viertens, es gibt relativ wenige Anbieter, sowohl in der Produktion (Rohstoff- und Immobilienbesitz) als auch in der Verteilung (Ölgesellschaften, Rohstoffhäuser wie Glencore, Trafigura oder Cargill, Einzelhandelsketten).

Strukturelle Ohnmacht

Die strukturelle Ohnmacht der Nachfrager verschärft sich in Zeiten eines (Wirtschafts-)Krieges: Auf den Derivatmärkten schießen die Rohstoffpreise über das durch die Verknappung berechtigte Maß hinaus, und Zwischenhändler erhöhen ihre Gewinnspannen. Dazu kommen "windfall profits" als Spezialfall von Renten: Ölgesellschaften verrechnen den aktuellen Ölpreis und nicht jenen, zu dem sie eingekauft haben; auch Strom aus Wasserkraft wird teuer.

Ein erheblicher Teil solcher Preissteigerungen könnte durch Gründung einer "Agentur für Markttransparenz" (AMT) verhindert werden. Ihr Ziel wäre es, die Grundlagen für das Funktionieren von Märkten zu gewährleisten: optimale Information für Anbieter und Nachfrager sowie Belebung der Konkurrenz. Dies würde ungerechtfertigten Preiserhöhungen im Zuge der kommenden, weiteren Erhöhung der Rohstoffpreise vorbeugen.

Kostenoptimale Einkaufskörbe

Als erster Schritt sollten alle Einzelhandelsketten verpflichtet werden, ihr jeweils gültiges Warenangebot auf einer von der AMT betreuten Plattform online zu stellen. Die AMT selbst und private Firmen entwickeln Apps, welche kostenoptimale Einkaufskörbe ermitteln unter Berücksichtigung der Standortdaten der Konsumenten und der Handelsketten. Ärmere Haushalte mit mehr Zeit, etwa Arbeitslose, könnten einen Wochenendeinkauf auf bis zu fünf Filialen im Umkreis von zwei Kilometern im urbanen Raum verteilen und auch die Produkte allgemein definieren, wie 100 Gramm Milchschokolade. Andere hingegen wollen nur in eine oder zwei Filialen in der Nähe gehen und bevorzugen Marken- und Bioprodukte. Die Handelsketten könnten ihr Angebot nicht nur durch knappere Kalkulation attraktiver machen, sondern auch indem sie – etwa für einen größeren Einkauf – den optimalen Pfad in der jeweiligen (Groß-)Filiale darstellen.

Schwierige Preisvergleiche

Erst durch eine solche Plattform würde ein einheitlicher Markt mit annähernd gleicher Informationsausstattung geschaffen – wie von der Theorie unterstellt. In der Praxis bezweckt das Marketing der Handelsketten genau das Gegenteil: Sie bewerben wenige Preissenkungen ("Sonderangebote"), über Preiserhöhungen informieren sie nicht, durch Kundenbindung soll das "Gewohnheitstier" in uns gestärkt und Preisvergleiche mit anderen Anbietern erschwert werden.

Starke Verteuerungen einzelner Rohstoffe werden von Supermarktketten oft zum Anlass genommen, die Verkaufspreise ungerechtfertigt stark zu erhöhen. So war 2008 der Weizenpreis auf das Dreifache gestiegen. Daraufhin erhöhten Rewe und Spar den Preis von 500 Gramm Bio-Spaghetti von 0,99 Euro auf 1,39 Euro, also um 40 Prozent. Bei einem Kostenanteil von Weizen am Endverkaufspreis von weniger als zehn Prozent hätte eine "faire" Verteuerung nicht einmal halb so hoch ausfallen dürfen. Um dies in Zukunft zu erschweren, sollte die AMT Richtwerte für den Kostenanteil wichtiger Rohstoffe am Nettopreis von Standardgütern bekanntgeben (Weizen an Brot oder Teigwaren, Erdöl an Treibstoffen). Gleichzeitige Preiserhöhungen durch mehrere Handelsketten könnten durch die Datenbank rasch identifiziert und überprüft werden.

Unverfroren hohe Gewinne

Besonders unverfroren war die Ausweitung der Gewinnspannen bei Energie, nicht zuletzt wegen der Dominanz weniger Konzerne. Auch hier braucht es mehr Transparenz, dargestellt am Beispiel der Treibstoffpreise: Auf Basis der Einkaufspreise der Ölkonzerne, ihrer Produktions- und Vertriebskosten sowie "normaler" Gewinnspannen ermittelt und publiziert die AMT Obergrenzen für "faire" Treibstoffpreise. Im Fall markanter Überschreitungen, insbesondere in Krisenzeiten, drohen Kartellverfahren.

Auch beim Wohnen würde (mehr) Transparenz und Wettbewerb den Preisauftrieb bremsen: Alle Anbieter von Grundstücken, Häusern und Mietwohnungen sind verpflichtet, ihr Objekt mit allen wesentlichen Merkmalen (Lage, Größe, Preis) auf einer von der AMT betriebenen Plattform online zu stellen. Such-Apps ermöglichen Anbietern und Nachfragern einen optimalen Marktüberblick (die derzeit verfügbaren Plattformen stellen lediglich Teilmärkte dar). In vielen Fällen braucht es dann keinen Makler und damit auch keine Provisionen. Für eine dauerhafte Dämpfung des Anstiegs der Wohnkosten sind allerdings noch weitere Maßnahmen nötig, um das systemische Marktversagen in diesem Bereich zu kompensieren. Dazu gehören eine Forcierung des sozialen Wohnbaus, die Festlegung von Richtwerten für Mieten, insbesondere im urbanen Raum, sowie eine Einschränkung befristeter Mietverträge.

Die hohen Gewinne von Energiekonzernen, Einzelhandelsketten und der Immobilienwirtschaft zeigen: Bei den Preisen gibt es viel Luft nach unten. (Stephan Schulmeister, 26.4.2022)