Selten waren die Seufzer der Erleichterung in den EU-Institutionen wie auch der meisten Regierungen so deutlich vernehmbar wie nach der Präsidentenwahl in Frankreich. Mit dem Sieg von Emmanuel Macron über Marine Le Pen, der letztlich noch etwas höher ausfiel als vorhergesagt, wurde überzeugten Anhängern des Einigungswerks der Europäischen Union ein Albtraum erspart. Das ist nicht nur in Frankreich eine breite Mehrheit.
So ähnlich war das Aufatmen in der EU und auch der Nato zuletzt, als der Demokrat Joe Biden in den USA Donald Trump als Präsident ablöste. Die amerikanische Ausgabe des Rechtspopulisten war eine gefährliche Drohung, nicht nur für den transatlantischen Zusammenhalt. Mit seiner Politik zum russischen Präsidenten Wladimir Putin stützte er dessen Absichten und Manipulationsversuche, die europäischen Staaten zu spalten, in die Knie zu zwingen.
An diese Zusammenhänge muss erinnert werden, wenn es um Le Pen geht. Die Chefin ihrer nationalpopulistischen "Bewegung" mag im Wahlkampf gemäßigter im Ton aufgetreten sein. Sie verzichtete darauf, die Abschaffung des Euro zu fordern wie 2017. Le Pen versuchte auch, sich nach dem russischen Angriffskrieg noch schnell von Putin zu distanzieren, der ihre Partei und ihre Politik – so wie auch andere extrem rechte Parteien – unterstützt hatte.
Wahre Ziele
Aber solche taktischen Manöver mit dem Ziel, möglichst viele Wähler im bürgerlichen Zentrum an sich zu binden, konnten nie über ihre wahren antieuropäischen Ziele hinwegtäuschen. Le Pen wollte zurück in die Vergangenheit: in ein Europa, in dem Grundrechte und Ausländer weniger zählen als Volkswillen und "echte" Bürger. Sie wollte als Präsidentin dafür sorgen, dass wieder die großen Nationalstaaten bestimmen, was auf dem Kontinent geschieht – gemeinsam mit Putins Russland, auf neuer Distanz zu Deutschland.
Das wurde abgewendet. Macron steht europapolitisch für das genaue Gegenteil, und darin besteht auch sein größtes Verdienst. Der Präsident hatte seinen Wahlkampf unbeirrt von Krisen, Populismen und zuletzt Putins mörderischem Krieg in der Ukraine exponiert proeuropäisch geführt. Es wäre für ihn vermutlich ein Leichtes gewesen, davon zugunsten eines Rückzugs auf vermeintlich heilsbringende nationale Problemlösungen abzurücken. Am Ende wurde ihm das Stehvermögen doch noch von vielen Wählern aus dem linken Spektrum und von den Jungen honoriert.
Die gute Frage ist nun: Kann der französische Präsident das nützen, um das von ihm geliebte gemeinsame Europa endlich aus der Krise zu führen, die EU zu einer "souveränen starken Macht in der Welt" inspirieren? Das ist keinesfalls sicher, aus vielerlei Gründen.
Der eskalierende Krieg, die immer tiefer werdende Wirtschaftskrise dürfte die EU noch lange zurückwerfen. Dazu kommt, dass im wichtigsten Partnerland, Deutschland, die Regierung unter Olaf Scholz schwächelt. Und schließlich muss man noch den Ausgang der Parlamentswahlen in Frankreich im Juni abwarten. Verliert Macrons Partei En Marche ihre Mehrheit, oder es triumphieren doch die Radikalen, Le Pen und Jean-Luc Mélenchon mit seiner antieuropäischen Linkspartei, dann wäre der Staatspräsident in Brüssel arg gehandicapt. Kein Grund also, sich entspannt zurückzulehnen. Um das gemeinsame Europa muss in Paris weiter hart gekämpft werden. (Thomas Mayer, 25.4.2022)