Am Landesgericht Wien wurden vergangenen Freitag sechs Männer verurteilt, weil sie einen jungen Mann gequält haben.

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Stundenlang wurde ein junger Mann von mehreren Männern gedemütigt: Sie zwangen ihn, Katzen am Anus zu lecken, in einem Kleid und geschminkt zu tanzen, sich einen Schlagstock in den Mund und einen Tampon in den Hintern einzuführen. Der Mann musste den Urin der anderen trinken, an Schuhen riechen, Zehen und den Analbereich von Männern ablecken.

Die Vorfälle ereigneten sich vergangenen Herbst in Wien, abgespielt hatte sich all das im Zuge eines Streits in einem Motorradklub, den das Opfer zuvor verlassen hatte. Die Schilderungen gehen aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft hervor, laut seinem Vertreter hat das Opfer eine geistige Behinderung. Der Fall wurde vergangene Woche – ohne merkliche Medienpräsenz – verhandelt und endete mit sechs Schuldsprüchen.

Nun findet er breitere Aufmerksamkeit, weil der Opfervertreter die verhängten Urteile als viel zu milde empfindet. Die Causa wirft aber auch das Schlaglicht auf ein unterbelichtetes Problem: nämlich dass Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen viel öfter Opfer von Gewalt- und Sexualverbrechen werden. Und gleichzeitig kaum jemand darüber spricht.

"Das darf man nicht übersehen"

Dass dem so ist, ist spätestens seit 2019 amtlich. Da erschien eine vom Sozialministerium in Auftrag gegebene Studie, die "Katastrophales" feststellte, wie es eine der Autorinnen formuliert. Die Kernaussagen: Vier von zehn Personen mit Behinderungen haben in ihrem Leben bereits schwere Formen körperlicher Gewalt erlebt, mehr als acht von zehn Personen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung haben psychische Gewalt erfahren. "Das Ausmaß der erlebten Gewalt ist teilweise um das Drei- oder Dreieinhalbfache höher als in der Gesamtbevölkerung", sagt Yvonne Seidler, Wissenschafterin an der Gewaltschutzakademie und Mitautorin der Studie, "das kann und darf man nicht übersehen".

Rund um die Studie kündigte das Sozialministerium an, dass das Thema Gewalt gegen Menschen mit Behinderung auch im "Nationalen Aktionsplan Behinderung" (NAP) eine Rolle spielen solle. Der letzte NAP lief eigentlich bis Ende 2020, er wurde dann um ein Jahr verlängert. Im Dezember 2020 kündige der damalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) einen neuen NAP für die Jahre 2022 bis 2030 an. Das war die letzte Meldung zu dem Thema.

Aus dem Gesundheitsministerium heißt es nun auf Nachfrage dazu: "Im April und Mai 2022 werden alle Ressorts, die Bundesländer, die Mitglieder der NAP-Begleitgruppe sowie die Mitglieder des Bundesbehindertenbeirats den Entwurf des NAP Behinderung 2022 bis 2030 prüfen." Beschließen wolle man ihn noch im ersten Halbjahr 2022. Aus dem letzten NAP habe man etwa drei Viertel der geplanten Maßnahmen umsetzen könne, darunter zum Beispiel "die Ausarbeitung und Veröffentlichung einer neuen und korrekten deutschen Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, auch in einer vollständigen Fassung in Leichter Sprache".

Tabuthema

"Gewalt gegen Menschen mit Behinderung ist immer noch ein Stück weit tabuisiert, auch wenn sich da in den letzten ein, zwei Jahrzehnten einiges getan hat", sagt Hemma Mayrhofer von der Universität Innsbruck, Projektleiterin der Studie von 2019. In dieser wurden 376 Menschen mit Behinderung interviewt, die allermeisten von ihnen waren in Einrichtungen der Behindertenhilfe. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele nie gelernt haben, das, was ihnen passiert ist, als Gewalt zu benennen – gerade auch, wenn es um sexualisierte Gewalt geht", sagt Mayrhofer. Und: Nach Missbrauchsfällen sei vielen Opfern nicht geglaubt worden. Es gelte, Abhängigkeiten von Menschen mit Behinderungen zu reduzieren, etwa durch niederschwellig zugängliche Anlauf- und Beschwerdestellen und vielfältige Unterstützungsangebote, die Selbstbestimmung und Teilhabe fördern.

Doch auch außerhalb von Einrichtungen kommt es zu Übergriffen. "Man kann ganz sicher von einer ähnlich hohen Betroffenheit ausgehen", sagt Seidler, "viele Menschen, die wir befragt haben, haben auch in ihrem sozialen Umfeld schon Gewalt erlebt. Das erhöht das Risiko, dass sie später wieder Gewalt erleben und selbst Täterverhalten zeigen." Seidler fordert, dass der Fokus in Österreich nicht länger vor allem auf die Intervention, sondern auch auf die Prävention gelegt wird. Die könne etwa schon bei den Eltern von Kindern mit Behinderung ansetzen, auch in den Schulen brauche es Maßnahmen.

Gewalt kommt in Schritten

Fälle wie jener des jungen Mannes, der stundenlang gequält wurde, sind da nur die Spitze der Eskalation. Gewalt gegen Menschen mit Behinderung kann verbal sein oder physisch, und häufig baut sie sich selbst auf. "Gewalt passiert ja nicht von null auf hundert", sagt Seidler, "das ist ein Prozess, der bei der Missachtung von Körper und Schamgrenzen beginnt."

Im Prozess am vergangenen Freitag waren die Täter übrigens allesamt geständig oder teilgeständig, sie wurden zu Strafen zwischen drei Monaten und fünf Jahren Haft verurteilt, dem Opfer werden 10.000 Euro zugesprochen. Bis auf ein Urteil sind alle bereits rechtskräftig. Opfervertreter Helmut Graupner spricht da von einer "außerordentlichen Milde sogar unter den gesetzlichen Mindeststrafen" für "sieben Stunden widerlichste Folter eines Behinderten". Das sei eine "unglaubliche Verharmlosung". Doch: Die Staatsanwältin habe auf Rechtsmittel verzichtet, dem Opfer stehe keines zu.

Astrid Wagner, die einen Teil der Angeklagten vertrat, sagt, die Richterin habe eben Rücksicht darauf genommen, dass "es geständige Burschen sind und dass es da einen Gruppendruck gab", die Strafbemessung hält Wagner für "angebracht". (Gabriele Scherndl, 27.4.2022)