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Der ERC zeichnet wegweisende Projekte an europäischen Forschungseinrichtungen aus. Die Universitäten Wien und Innsbruck erhielten mit vier beziehungsweise drei geförderten Projekten die meisten Zuschläge.
Bild: Reuters / Nasa

Elf Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die in Österreich forschen, dürfen sich über besonders hohe Förderungen durch den Europäischen Forschungsrat (ERC) freuen. Die "Advanced Grants" sind mit bis zu 2,5 Millionen Euro dotiert und sollen den Forschenden ermöglichen, anspruchsvolle und risikoreiche Projekte durchzuführen. In der aktuellen Antragsrunde wurden insgesamt 253 "Advanced Grants" vergeben. Vier gehen an die Universität Wien, drei an die Uni Innsbruck, zwei an die TU Wien sowie jeweils einer an Med-Uni Wien und das ISTA in Klosterneuburg.

Die "Advanced Grants" stellen das "Flaggschiff-Programm" des ERC dar, mit dem im EU-Forschungsrahmenprogramm "Horizon Europe" Grundlagenforschung gefördert wird. In Summe werden in der aktuellen Runde dafür 624,6 Millionen Euro ausgeschüttet. 1.735 Forschende hatten einen Antrag gestellt, 14,6 Prozent erhielten den Zuschlag. Die meisten Förderpreise – 61 an der Zahl – gehen nach Deutschland.

Interstellares Gas und Rückstände der Innovation

Mit dem Astrophysiker João Alves, der Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt, dem Politikwissenschafter Oliver Marchart und dem Kommunikationswissenschafter Jörg Matthes gehen vier "Advanced Grants" an Forschende der Universität Wien. João Alves vom Institut für Astrophysik der Uni Wien will eine neue Beobachtungstechnik entwickeln und anwenden, um erstmals die 3D-Bewegung von interstellarem Gas in der Milchstraße zu verfolgen. Dies soll neue Sichtweisen auf den kaum verstandenen Bildungsprozess von Gaswolken und von Spiralarmen und damit ein besseres Verständnis über den Ursprung von Sternen und Planeten in der Milchstraße ermöglichen.

Ulrike Felt, Leiterin des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung der Uni Wien, will in ihrem ERC-Projekt die Perspektive weg vom Blick auf neue Innovationen hin zu deren Hinterlassenschaften verschieben. Explizit widmet sie sich drei "Rückständen" großer Innovationsfelder, nämlich nuklearem Abfall, Mikroplastik und dem Sammeln und Speichern von digitalen Daten. Ihr Ziel ist es, zu verstehen, welchen Platz solche Rückstände in Innovationsgesellschaften einnehmen, wie wir für sie Sorge tragen, wie dies unsere Entscheidungen über und Beziehungen zu Innovationen prägt und welche Rolle Fragen von nachhaltiger Zukunft und Verantwortung spielen.

Demokratisierung und digitaler Hass

Vor dem Hintergrund der Krise liberaler Demokratien will Oliver Marchart vom Institut für Politikwissenschaft der Uni Wien alternative politische Institutionen erforschen, die das Potenzial besitzen, die Demokratisierung der Demokratie zu befördern. Dazu beabsichtigt er, nicht nur weitgehend vergessene Institutionen aus der politischen Ideengeschichte auf ihre demokratiepolitische Aktualisierbarkeit hin zu überprüfen. Er plant auch, aktuelle aktivistische und künstlerische Praktiken zu analysieren, die neue institutionelle Formate erfinden oder sich bestehende aneignen. Sein Ziel ist dabei die Entwicklung einer Demokratietheorie politischer Vorstellungskraft.

Jörg Matthes vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien wird in seinem ERC-Projekt Entstehung, Verbreitung und Wirkung von digitalem Hass untersuchen und dabei in einem ländervergleichenden Design die dabei Beteiligten in den Blick nehmen – als Täter und Täterinnen, "Bystander" (also in zuschauender Rolle) und Opfer. Im Fokus steht dabei nicht nur der Hass gegenüber gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, sondern auch jener gegenüber Personen aus Politik, Journalismus und Wissenschaft. Ziel des Projekts ist es zu verstehen, wie und warum sich der Hass verbreitet und was man dagegen tun kann.

Quantenphänomene in Innsbruck

Drei "Advanced Grants" gehen an zwei Forscherinnen und einen Forscher der Universität Innsbruck: Für Francesca Ferlaino vom Institut für Experimentalphysik der Uni Innsbruck ist es bereits der dritte ERC-Förderpreis, nach einem "Starting Grant" (2010) und einem "Consolidator Grant" (2016). Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen ultrakalte Gase, mit deren Hilfe sie Quantenphänomene im Labor gezielt herbeiführen und erforschen kann. In ihrem ERC-Projekt will sie Metalle der seltenen Erden nutzen, um die nächste Generation von Quantensimulatoren zu bauen, die erweiterte Fähigkeiten versprechen.

Hans Briegel vom Institut für Theoretische Physik der Uni Innsbruck will in seinem ERC-Projekt den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Quantenphysik und insbesondere der Quanteninformation untersuchen. Er will dazu Modelle künstlicher lernender Agenten entwickeln, die KI-gesteuerte Quantenexperimente und wissenschaftliche Entdeckungen erleichtern sollen. Diese Modelle sollen künftig in hybriden Laboratorien eingesetzt werden, in denen Forscher mit KI-Assistenzsystemen zusammenarbeiten.

Stoffwechsel und Festkörper

Im Mittelpunkt des ERC-Projekts der Leiterin des Instituts für Biochemie der Uni Innsbruck, Kathrin Thedieck, steht das Protein "mTOR", das praktisch alle Stoffwechselprozesse in Zellen und Organismen beeinflusst und Zellwachstum und -differenzierung steuert. Dementsprechend ist "mTOR" ein zentrales therapeutisches Zielmolekül in alterungsassoziierten Erkrankungen wie Krebs und neurodegenerativen Störungen. Sie will herausfinden, wie spezifische Stoffwechselreaktionen auf bestimmte Stoffwechselsignale vermittelt werden.

Zwei "Advanced Grants" erhalten Forschende der Technischen Universität (TU) Wien. Für Silke Bühler-Paschen vom Institut für Festkörperphysik ist es bereits der zweite derartige Förderpreis. Die Physikerin beschäftigt sich mit Quantenzuständen in Festkörpern und hat im Vorjahr in einem neuartigen Material aus Cer, Bismuth und Palladium unerwartete Eigenschaften entdeckt, etwa ein ganz besonderes elektrisches Verhalten. In ihrem ERC-Projekt will sie nicht nur dieses neue Material verstehen, sondern die Erkenntnisse daraus auch nutzen, um weitere neue Materialien zu entdecken.

Isolatoren, Tagesrhythmus und Löwenmäulchen-Evolution

Tibor Grasser vom Institut für Mikroelektronik der TU Wien befasst sich in seinem ERC-Projekt primär mit Fluoriden, etwa Kalziumfluorid, als ultradünne Isolatoren. Diese sollen herkömmlichen Isolatoren aus 3D-Materialien wie zum Beispiel Siliziumdioxid überlegen sein. Einsatz finden immer dünner werdende Halbleiter und Isolatoren in Transistoren. Damit solche 2D-Isolatoren auch einen passenden Halbleiter finden, plant Grasser passende Kandidaten dafür vorzusortieren und experimentell zu testen.

Ebenfalls mit einer ERC-Förderung wurde Eva Schernhammer, Leiterin der Abteilung für Epidemiologie der Medizinischen Universität Wien, bedacht. Sie wurde mit der Covid-19-Pandemie einer breiten Öffentlichkeit bekannt, knüpft mit ihrem geförderten Projekt allerdings an ihre früheren Forschungen über die nachteiligen gesundheitlichen Folgen eines gestörten Tagesrhythmus ("zirkadiane Uhr") an. Mit Hilfe von epidemiologischen Messmethoden will sie die zusammenhängenden Mechanismen des zirkadianen Rhythmus sowie Gen- und Umwelteinflüsse untersuchen, um das individuelle Risiko für negative Auswirkungen einer aus dem Takt geratenen "inneren Uhr" besser abzuschätzen.

Auch für Nicholas Barton vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg (NÖ) ist es bereits der zweite "Advanced Grant". Mit dem neuen Förderpreis will der Evolutionsbiologe neue statistische Methoden entwickeln, die die reichhaltige Struktur genetischer Daten erfassen und die Grenzen dessen aufzeigen, was sich daraus ableiten lässt. Getestet werden sollen diese Methoden anhand von Bartons Langzeitstudie über eine Populationen von Löwenmäulchen (Antirrhinum) mit unterschiedlicher Blütenfarbe, die die Forschenden seit mehr als einem Jahrzehnt beobachten. (APA, red, 26.4.2022)