Bei allen Menschen ähneln sich Organe in ihrer Form und Größe. Warum das so ist, gibt Forschenden bis dato noch Rätsel auf.

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"Sie sind formgebende Substanzen und in der Entwicklung unverzichtbar", sagt die Entwicklungsbiologin Anna Kicheva und meint damit: Morphogene. Diese Moleküle bestimmen, simpel gesagt, das Schicksal von Zellen. "Morphogene bilden eine Art Koordinatensystem für die Entwicklung des Gewebes", erklärt Kicheva. Sie werden an gewissen Stellen im Gewebe oder den Organen produziert. Je nach Position der Zellen zu diesen Produktionsstellen sind sie anderen Morphogen-Konzentrationen ausgesetzt.

Dies bestimmt, neben vielen anderen Mechanismen, wann und wie sich Zellen teilen und entwickeln. Morphogene sind mitverantwortlich dafür, wie groß eine Hand wird, wie viele Finger sie hat, wo sich der Daumen befindet. "Mit meiner Forschung möchte ich verstehen, warum Entwicklung reproduzierbar ist und warum ein menschliches Organ immer eine ähnliche Form und Größe hat, unabhängig von der Größe des Menschen", sagt Kicheva.

Kuriose Verbindung

Der britische Mathematiker und Informatiker Alan Turing ist für die Entwicklung der Rotor-Chiffriermaschine Enigma bekannt, mit der die Briten während des Zweiten Weltkrieges deutsche Funksprüche entschlüsseln konnten. Was viele nicht wissen: Er prägte, in einem Artikel aus dem Jahr 1952, den Begriff Morphogene.

Turing wollte herausfinden, wie Muster in der Natur entstehen. Er untersuchte die Wechselwirkung eines Systems zweier sich ausbreitender und miteinander wechselwirkender Substanzen. Solch ein System, zeigte er, könnte räumlich periodische Wellenmuster erzeugen. Die Ausbreitung und gleichzeitige Wechselwirkung von Morphogenen könnte so zu chemischen Mustern im Gewebe führen, welche die Entwicklung der Zellen bestimmen.

Wenige Jahre später, in den 1960er-Jahren, vermuteten Biologen, dass es Signalmoleküle geben muss, die die Zellentwicklung beeinflussen. Lewis Wolpert, ein britischer Entwicklungsbiologe, ersann 1969 das French-Flag-Modell. Er ging davon aus, dass Morphogene Konzentrationsgradienten bilden, auf die Zellen mit unterschiedlicher Entwicklung reagieren.

Die französische Flagge diente als visueller Anker. Lange wurden Turings Reaktions-Diffusions-Modell und Wolperts French-Flag-Modell als konkurrierende Konzepte betrachtet. Aktuelle Forschung zeigt: Beide Prozesse laufen in der embryonalen Entwicklung ab.

Zugewinn an Wissen

"In den vergangenen zehn, zwanzig Jahren will man die Mechanismen, wie Morphogene Zellen verändern, genau verstehen", sagt Kicheva. Während ihres Doktorratsstudiums am Max-Planck-Institutfür Zellbiologie und Genetik in Dresden wuchs Kichevas Interesse für Morphogene. "Seitdem bin ich vollkommen fasziniert von diesen Molekülen und der Rolle, die sie in der Entwicklung von Zellen spielen", sagt die Entwicklungsbiologin.

Heute leitet Kicheva eine eigene Forschungsgruppe am Institute for Science and Technology (IST) Austria in Klosterneuburg. "Entwicklung basiert auf zahlreichen Rückmeldungen und Interaktionen. Es gibt dutzende Morphogene, die in verschiedenen Organen wirken", sagt sie. Um herauszufinden, nach welchen Prinzipien Morphogene funktionieren, muss man sie in verschiedenen Organen und Spezies untersuchen. Ihre Forschungsgruppe will verstehen, wie Gradienten von Morphogenen im Rückenmark entstehen und wirken – und wie Zellen diese Signale interpretieren und umsetzen.

Den theoretischen Rahmen von Anna Kichevas Forschung bilden mathematische Modelle. Ihre Gruppe forscht an Zellkulturen, die den Vorläuferzellen im Neuronalrohr von Mäusen ähneln. Diese entstehen mittels In-vitro-Stammzellendifferenzierung in der Petrischale. Viele der frühen Entwicklungsprozesse von Mäusen lassen sich auch auf die embryonale Entwicklung des Menschen übertragen.

Das Neuronalrohr ist die Vorstufe des Rückenmarks und entsteht wenige Tage nach der Befruchtung. "Wir studieren, wie Morphogengradienten die ersten drei, vier Tage der Entwicklung des Neuronalrohrs beeinflussen. Das ist eine überraschend kurze Zeitspanne – aber auch eine sehr wichtige", sagt Kicheva. Auch wenn die Forschung bei Morphogenen seit den 1960er-Jahren weit gekommen ist, hält sie noch viel Unbekanntes bereit.

Rätselhafte Mechanismen

So erhalten Zellen Anweisungen von mehreren Morphogenen. Wie sie diese unterschiedlichen Signale interpretieren und umsetzen, ist ein aktives Forschungsfeld. Morphogene beeinflussen auch, ob eine Zelle sich teilt oder ihre Zellentwicklung einstellt. Die genauen Mechanismen dahinter sind noch weitestgehend unbekannt.

Das Wissen über Morphogene wird in der regenerativen Medizin wichtig werden, meint die Entwicklungsbiologin. "Die Signalübertragung zwischen Morphogenen und Zellen ist bei der Entstehung von Krebs und bei der Embryonalentwicklung ähnlich. Je mehr wir über Morphogene wissen, desto besser kann man dieses Wissen in anderen Bereichen anwenden", sagt Kicheva. (Laura Anninger, 27.4.2022)