Im Süden der Ukraine kristallisieren sich Russlands Pläne für die Ukraine heraus. Am 2. März hatten russische Truppen die Einnahme der Stadt Cherson gemeldet. Die Stadt fiel praktisch kampflos. Der Chef der lokalen Abteilung des ukrainischen Geheimdienstes SBU wurde später von Präsident Wolodymyr Selenskyj wegen "Verrats" entlassen. Er habe den Eid auf die Ukraine gebrochen, hieß es dazu seitens des Präsidialamts. In der Stadt selbst dauerte es allerdings nur wenige Stunden, bis es zu Protesten kam. Diese Proteste halten an. Bis heute.

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Seit dem Fall der Stadt Cherson zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine stellen sich dort Menschen friedlich den Besatzern aus Russland entgegen.
Foto: Reuters

Und das trotz des immer härteren Vorgehens der russischen Armee gegen solche Kundgebungen. Am Montag wurde nun das Stadtparlament aufgelöst. Bereits in den kommenden Tagen könnte es laut Berichten ein Referendum über die Bildung einer Russland-hörigen Volksrepublik nach dem Vorbild derer in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk geben.

Anders als bei der russischen Offensive im Norden, wo Städte umgangen wurden, ist die russische Armee in Cherson gekommen, um zu bleiben. Cherson Stadt sowie die Region sind von zentraler Bedeutung für Russlands Feldzug: ohne Cherson keine Landbrücke auf die Krim; ohne Cherson keine gesicherte Wasserversorgung für die Krim; und ohne Cherson vor allem auch keine Offensive auf Odessa.

Entscheidende Feldzüge

Selenskyj selbst hatte Cherson nebst Isjum im Osten, dem Donbass und der Asowküste samt Mariupol als einen der Orte genannte, an denen dieser Krieg entschieden werde. Und zuletzt meinte er: Sollten die russischen Besatzungstruppen ein Referendum abhalten, würde das das Ende der Gespräche mit Russland bedeuten.

Lyudmila Brankewytsch (Name geändert) lebt keine 20 Kilometer von dort entfernt, wo sich die Front in der Oblast Cherson derzeit festgefressen hat. Sie ist als Freiwillige tätig, koordiniert Hilfen und versorgt Militärs mit Essen, Schlafsäcken oder sonstigem Material. Und sie kümmert sich auch um Flüchtlinge, die auf ihrem Weg nach Krywyj Rih hier vorbeikommen. Also um die, die es trotz allem aus den umkämpften Gebieten rausgeschafft haben. Denn über humanitäre Korridore wird hier zwar verhandelt. Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sei beteiligt, erzählt Brankewytsch. Nur Einigung gibt es keine.

"Sie wollen niemanden gehen lassen", sagt die Helferin. Mit "sie" meint Brankewytsch die russische Armee. Und wenn es Leute rausschaffen, erklärt sie, dann seien das Frauen. Denen werde gesagt: "Ja rennt halt, die Männer werden wir rekrutieren und euch nachschicken." Von genau solchen Plänen hat auch der ukrainische Militärgeheimdienst berichtet. Passiert ist das laut Lyudmila Brankewytsch aber noch nicht. Allerdings dürften Zivilisten von der russischen Armee für Schanzarbeiten herangezogen worden sein.

Besetzungen und Festnahmen

Was in Cherson derzeit passiert, ist nichts anderes als der systematische Aufbau eines Angstregimes: Städte wurden besetzt, Verwaltungen werden ausgetauscht, Journalisten, Priester und Aktivisten werden festgenommen, Bürgermeister verhört, Lehrer und Uniprofessoren aus dem Dienst entfernt. Wie der Machthaber auf der russisch kontrollierten Krim, Sergei Aksjonow, zuletzt meinte, sollen Pädagogen und Professoren in Lagern auf der Krim umerzogen werden. In Schulen wird laut ukrainischen Quellen nun auf Russisch unterrichtet.

Brankewytsch berichtet auch, dass viele Menschen verschwunden sind: Aktivistinnen, Politiker, Mädchen und junge Frauen. Die geflohenen Verwandten einer verschwundenen 20-Jährigen hat Brankewytsch selbst betreut. Es gebe mehrere solcher Fälle. Sie selbst kennt mindestens drei. Ob die Frauen noch leben, sei nicht bekannt.

Starker Widerstand

Mit dem sogenannten Referendum soll der russische Anspruch auf die Region nun vermutlich einzementiert werden. Doch die Widerstände sind groß. Erst am Wochenende kam es in Cherson Stadt wieder zu großen Kundgebungen. Den unbewaffneten Zivilisten gegenüber stehen dabei immer schwerbewaffnete Armeeeinheiten. Bei diesen Kundgebungen gab es bereits Verletzte. "Die Leute hassen die Russen", sagt Brankewytsch.

Es gibt bereits auch Berichte über eine aktive Guerilla in und um Cherson. Bestätigen lässt sich das nicht. Allerdings gelang es ukrainischen Einheiten im März mehrmals, den Flughafen der Stadt zurückzuerobern, als diese längst von der russischen Armee eingenommen war, dort stationiertes Gerät zu vernichten und wieder zu verschwinden.

Dafür, dass die russischen Truppen in der Region nervös sind, gibt es eine ganze Reihe an Indizien: So hätten die Besatzer zuletzt ihre Checkpoints in der Region massiv verstärkt, berichtet Brankewytsch. Auch die Telefonverbindungen in und aus Cherson Stadt wurden gekappt. Entsprechend spärlich ist die Nachrichtenlage. Und laut Aussagen von Personen, die nach Verhören durch russische Dienste wieder freigelassen wurden, zielen die Fragen nur auf eines ab: die Organisatoren der Proteste ausfindig zu machen.

Derzeit sammelt die russische Armee hier aber auch ihre Kräfte. Kiew vermutet eine baldige Offensive auf Krywyj Rih. (Stefan Schocher, 27.4.2022)