Sie geht für ihren Sohn zur Not auch bis an den US-Supreme-Court: Meltem Kaptan als Rabiye Kurnaz.

Foto: Filmladen

Für die meisten Menschen ist eine unsanfte Reibung mit geopolitischen Verhärtungen eigentlich nicht vorgesehen. Auch die Welt von Rabiye Kurnaz drehte sich lange in engeren und ruhigeren Bahnen. Sie ist das unermüdliche Oberhaupt einer türkischen Familie aus einem Bremer Einwandererstadtteil – bis sie eines Morgens im Oktober 2001 ihren Sohn Murat beim Frühstück vermisst. "Murat, steh auf, oder ich schneide dir deinen Bart ab!", ruft sie. Doch der von einem Prediger in der örtlichen Moschee indoktrinierte Sohn ist schon fort. Er wollte nach Afghanistan.

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Andreas Dresens Film Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush erzählt die wahre Geschichte dieses Murat Kurnaz, der später in Pakistan aufgegriffen und als inkriminierter IS-Kämpfer dann fast fünf Jahre unschuldig in Guantánamo saß. Aber, halt, eben nicht ganz: Der Fokus bleibt nämlich auf seiner Mutter Rabiye, die wie eine Löwin um seine Freilassung kämpft. Und dies verändert die gesamte Gangart des Films: Was ein Politdrama hätte werden können, verwandelt sich in eine humanistische Komödie über eine Frau, die aus Mutterliebe den Kampf gegen die Windmühlen der Bürokratie und eine opportunistische Politik annimmt.

Wie eine Dampflok

Vergangenen Februar wurde der Film auf der Berlinale uraufgeführt und vor allem aufgrund seiner Hauptdarstellerin Meltem Kaptan zum Gesprächsthema – sie wurde schließlich mit einem Silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin prämiert. Für die meisten Besucherinnen und Besucher, zumal die internationalen, war die in Gütersloh geborene Tochter aus einer türkischen Einwandererfamilie, die mit der Bestimmtheit einer Dampflok durch den Film fegt, eine Neuentdeckung. Dabei ist Kaptan als Comedienne im deutschen Fernsehen, etwa als Moderatorin der Ladies Night, schon länger erfolgreich. Seit dem Berlin-Erfolg flattern nun jedoch sogar Angebote aus Hollywood herein.

Dass ihr Wechsel von Comedy zum Arthouse-Film dennoch keine Selbstverständlichkeit ist, führt Kaptan im Gespräch auf ein allzu enges Verständnis von Unterhaltung in Deutschland zurück: "Wir neigen im künstlerischen Bereich zu Schubladendenken. Man muss sich schon beinahe dafür entschuldigen, wenn man singt! Das sehe ich nicht ein. Ein Künstler ist dazu da, Emotionen zu transportieren – wie auf einem Tablett."

Für die 41-Jährige, die schon in Theatern und Musicals aufgetreten ist, ist es seit jeher viel reizvoller gewesen, die gesamte Klaviatur ihres Talents zu bedienen.

Einstellung aus den USA

Kaptans Haltung hat sich in ihrer Zeit in den USA gefestigt, sie studierte Theater und Performing Arts an der Western Washington University. Dass man es dort mit klaren Gattungsgrenzen lässiger angeht, hat sie geprägt: "Das ist Teil einer anderen Lebenseinstellung, von der ich mir das Positive behalten habe."

In ihrer Darstellung von Rabiye verschmelzen nun Komik, Elan und Aufrichtigkeit – Dresen nannte Kaptan gar eine "Verwandlungsschauspielerin". Diese vielseitigen Eigenheiten ihrer Figur hat sie jedoch sich bei der realen Rabiye abgeschaut: "Man merkt man schnell, wie stark Witz und Charme zu ihrer Persönlichkeit gehören. Es ist für sie eine Art Überlebenselixier." Den Kontrast zur beherzten Wuchtbrumme liefert der Anwalt an ihrer Seite, den Alexander Speer besonders hanseatisch trocken anlegt.

Postmigrantische Lebensweisen hat Kaptan schon in Comedy- Formaten zugespitzt. Die Forderung nach Diversität sieht die studierte Anglistin jedoch nicht nur durch größere Rollenvielfalt erfüllt: Warum sollte sie keine Deutsche spielen, fragt sie. In ihrer Magisterarbeit hat sich Kaptan mit feministischem britischem Theater befasst, da wechseln Frauen oft ihr Geschlecht. Auch "color-blind casting", das Ausblenden von Ethnizität und Hautfarbe, fände sie erfrischender, als an Identitäten festzuhalten.

"Taxlergrün" beim Autofahren

In Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush treibt sie einstweilen die Stereotype noch lustvoll in die Höhe. In ihrem Mercedes fährt ihre Rabiye nach der Maxime "Taxlergrün", in einwandfreiem Deutsch-Türkisch sagt sie Sätze wie: "Heimat ist dort, wo man satt wird." Das zentrale Thema des Films lautet für Kaptan jedoch, bis zu welchem Moment man für jemanden einsteht. "Bis wann gehört jemand zu einem Land und wann nicht mehr?", fragt sie. Es könne nicht da enden, wo jemand "ungemütlich" wird.

Mit Rabiye hat Kaptan jedenfalls ein Role-Model geschaffen, das gar keines sein will: eine Frau, die ihre Vorbildwirkung hinsichtlich Gerechtigkeit mit Mutterinstinkt erfüllt. "Selbst wenn es manchmal fast übergriffig wirkt", sagt Kaptan, "verzeiht man das solchen Übermüttern, weil es aus Liebe geschieht." (Dominik Kamalzadeh, 28.4.2022)