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Sars-CoV-2 wurde nicht nur in der Biomedizin zum bestimmenden Thema. Welche Spuren wird das besterforschte Virus aller Zeiten im Wissenschaftssystem hinterlassen?

AP / Frank Augstein

Die Pandemie hat unser aller Leben massiv verändert. Von diesem Schock durch Covid-19 war natürlich auch die Wissenschaft betroffen. "Wir haben unsere Forschung von einem Tag auf den anderen umgestellt und uns für einige Wochen nur noch diesem einen Thema gewidmet", erinnert sich Komplexitätsforscher Stefan Thurner, Gründer und Leiter des Complexity Science Hub Vienna (CSH). Ähnlich ging es tausenden Forschenden rund um den Globus.

Mit ihren Arbeiten trugen sie wesentlich dazu bei, dass die Auswirkungen von Sars-CoV-2 nicht noch katastrophaler ausfielen. Durch die Entwicklung von wirksamen Impfstoffen und Medikamenten gegen Covid-19, durch die Analyse von Virusmutationen oder durch Erkenntnisse über die sozialen und ökonomischen Folgen der Krise konnte eben diese in vielen Bereichen abgemildert werden.

DIe Coronakrise als Experiment

Wissenschafterinnen und Wissenschafter mussten – so wie wir alle – von einem Tag auf den anderen ihre Lebens- und Arbeitsroutinen ändern. Sie konnten während der Lockdowns ihre Labors für Wochen nicht betreten, mussten im Homeoffice weiterforschen und online lehren. Die Pandemie wurde damit in gewisser Weise zum Experiment, an dem sich studieren lässt, wie sich die Wissenschaft selbst durch eine solche Ausnahmesituation verändert hat.

Doch was lässt sich nach mehr als zwei Jahren darüber sagen, wie Covid-19 sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene in die Wissenschaft eingegriffen hat? Und welche dieser Veränderungen, die der Pandemie-Schock mit sich brachte, werden der Forschung in Zukunft erhalten bleiben?

Diese Fragen sind auch Thema der Ringvorlesung "Gesundheit. Gesellschaft in der Krise?", die von der Uni Wien und der Med-Uni Wien gemeinsam veranstaltet wird und von der Politikwissenschafterin Barbara Prainsack (Uni Wien) und vom Physiker Thomas Beyer vom Zentrum für medizinische Physik der Med-Uni Wien konzipiert wurde. DER STANDARD begleitet die Vorlesung unter anderem durch einen Ticker.

Verstärkte Ungleichheiten

Prainsack, die seit vielen Jahren über Gesundheitsfragen forscht, sieht als eine der wichtigsten Folgen der Pandemie, dass sich bestehende Ungleichheiten in der Gesellschaft wie in der Forschung weiter vergrößert haben: "Auch im Wissenschaftssystem haben die weniger Privilegierten weiter verloren."

Dazu zählt sie zum einen etwa befristet angestellte Lehrende, denen der Mehraufwand für das Unterrichten, das online stattfinden musste, nicht abgegolten wurde. Zum anderen hatten insbesondere Wissenschafterinnen und Forschende mit kleinen Kindern weniger Zeit zum Forschen, weil sie sich um Haushalt, Homeschooling und andere Betreuungsaufgaben zu kümmern hatten.

Das ist durch mehrere Untersuchungen gut dokumentiert. So befragte ein Team um den US-chinesischen Netzwerkforscher Dashun Wang (Northwestern University) rund 7.000 nordamerikanische und europäische Forschende in leitenden Funktionen und quer durch alle Disziplinen, wie sich ihre Arbeit verändert hatten. Dabei zeigte sich unter anderem, dass sich im Vergleich zu 2019 die durchschnittliche wissenschaftliche Wochenarbeitszeit während der frühen Phasen der Pandemie – konkret: im April 2020 – um rund sieben Stunden pro Woche reduziert hatte. Besonders betroffen davon waren Wissenschafterinnen.

Die Arbeitszeiten der befragten Forschenden gingen pandemiebedingt zurück, "erholten" sich aber 2021 wieder.
Grafik: Dashun Wang et al., Nature Communications 2021

Keine Zeit für Projektanträge

Dashun Wang, der im Vorjahr das Buch "The Science of Science" veröffentlichte, führte mit seinem Team im Jänner 2021 noch eine weitere Befragung durch, deren Ergebnisse im Fachblatt "Nature Communications" veröffentlicht wurden. Zwar gingen die Arbeitsbeeinträchtigungen wieder weitgehend zurück, einige pandemische Veränderungen erwiesen sich allerdings als recht dauerhaft: So etwa waren sehr viel mehr Wissenschafterinnen als Wissenschafter im ersten Pandemiejahr einfach nicht dazugekommen, neue Projektanträge zu stellen.

Das Resümee der Studie: Auch wenn sich die Wissenschaft von den anfänglichen Beeinträchtigungen bereits Anfang 2021 wieder erholt haben dürfte, sollten insbesondere auch die Wissenschaftsförderer den langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf den Wissenschaftsbetrieb Beachtung schenken.

Covid-19 verdrängte klinische Studien

Bei den in den letzten zwei Jahren geförderten Projekten wurden mehrere Trends offensichtlich. Wie nicht weiter überraschend, wurde Covid-19 als Forschungsthema schnell dominant, wie der Ökonom Luca Verginer (ETH Zürich) erklärt. Er hat in einer Studie im Fachblatt "PLOS One" für den biomedizinischen Bereich untersucht, wie sehr sich die Zahl der neuen Projektbewilligungen 2020 inhaltlich verschoben haben – "zu sehr in Richtung Covid-19", wie er im Gespräch mit dem STANDARD sagt. Klinische Studien, die nichts mit Covid-19 zu tun hatten, seien dadurch nämlich massiv zurückgegangen und hätten immer noch nicht ganz das Vorkrisenniveau erreicht.

Für den Forschungspolitikexperten Thomas König (IHS Wien) zeigte sich zudem, dass die Pandemie neue Kooperationen zwischen Fachleuten aus der Medizin, den Natur- und den Sozialwissenschaften schuf: "Dass man problemorientiert auf Augenhöhe zusammenarbeitete, war jedenfalls in Österreich bis zur Pandemie undenkbar." Es seien dies neue Formen überdisziplinärer Zusammenarbeit, die durch die Pandemie zugleich nötig geworden sei, diagnostiziert auch Barbara Prainsack.

Covid-19 sei eine "transboundary crisis", also eine alle nationalen, aber auch disziplinären und politischen Grenzen überschreitende Krise, wie sie erklärt. Dieser Begriff wurde vom niederländischen Politikwissenschafter Arjen Boin (Uni Leiden) geprägt, der im März im Rahmen der Ringvorlesung der beiden großen Wiener Unis vortrug.

DER STANDARD

Diese Krise über alle Grenzen hinweg bedeutet auch, dass zu ihrer Bewältigung überdisziplinäre Zusammenarbeit und integriertes Denken nötig seien. "Selbiges gilt für die Klimakrise, die auch eine Gesundheitskrise ist", sagt Prainsack.

Ambivalente Erfahrungen

Zudem hat die Krise, und da sind sich alle befragten Forschenden einig, eine Intensivierung der Kommunikation von Wissenschaft mit der Politik und der Öffentlichkeit gebracht. Die Erfahrungen, die im unmittelbaren Austausch insbesondere mit Entscheidungsträgern gemacht wurden, waren in Österreich – auch diesbezüglich herrscht Einigkeit – aber unter dem Strich ambivalent: Die dafür eigens geschaffenen Gremien funktionierten nicht immer zur Zufriedenheit der Forschenden; zudem seien etwa die Sozialwissenschaften in diesen Kommissionen oft unterrepräsentiert gewesen.

Schließlich brachte die Pandemie auch tiefgreifende Änderungen im wissenschaftlichen Publikationssystem, ergänzt Stefan Thurner, dessen Team sich längst wieder mit vielen anderen Fragen neben Covid-19 befasst: Preprints, die bis zur Pandemie nur in einigen Naturwissenschaften wie der Physik oder der Astronomie üblich gewesen seien, hätten sich durch die Pandemie nun auch in vielen anderen Bereichen und insbesondere in der Medizin durchgesetzt. Zudem haben alle großen Verlage wie Springer-Nature und Elsevier die Studien zu Covid-19 frei zugänglich gemacht.

Was wird, was darf bleiben

Bleibt die Frage, was von all diesen Veränderungen für die Wissenschaft bleiben wird – "und bleiben darf", wie Prainsack ergänzt. Denn einige Entwicklungen waren für die Forschung hochgradig positiv, aber eben nicht ohne Kosten – wie der Gratiszugang zu Covid-19-Publikationen. Diesbezüglich ist Stefan Thurner eher pessimistisch: "Den Verlagsoligopolen geht es um Profitmaximierung." Dementsprechend sei zu befürchten, dass der pandemiebedingte Trend zu Open Access, Open Science und Open Data demnächst wieder abflauen könnte – nicht aber die Wichtigkeit von Preprints oder das Teilen von Daten, die seiner Einschätzung weiter zunehmen wird.

Erhaltenswert wäre für die befragten Forschenden auch die problemorientierte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Disziplinen, die aufgrund der Pandemie nötig wurde. Werden die einzelnen Forschungsrichtungen, die zum Teil sehr produktiv kooperiert haben, nach der Pandemie wieder auf sich selbst zurückfallen? Für König und Prainsack steht das zu befürchten. Das liegt für die beiden auch daran, dass es im internationalen Vergleich hierzulande zu wenige Anreize für überdisziplinäre Forschung gäbe.

Neue Schnittstellen

Hinsichtlich der Interaktion von Wissenschaft und Politik, die pandemiebedingt intensiviert wurde, aber verbesserbar blieb, regt Prainsack die vorsorgliche Einrichtung "einer multidisziplinär zusammengesetzten Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik" an, die bei der nächsten Krise mobilisiert werden könnten. "Der kürzlich veröffentlichte Abschlussbericht der Swiss National Covid-19 Science Task Force sieht genau so etwas vor. In Österreich könnte man etwa die Future Operations Platform zu einer solchen Struktur ausbauen."

Prainsack sieht noch eine andere Folgewirkung der Pandemie, die nicht wenige Forschende und Lehrende betreffen könnte: "Ich fürchte, dass wir in der Wissenschaft eine massive Burnout-Welle erleben könnten." Es gelte, die Arbeitsbedingungen für die weniger privilegierten Lehrenden und Forschenden zu verbessern, damit es nicht zu Zuständen wie in Großbritannien komme: "Dort gaben kürzlich zwei Drittel aller Uni-Angehörigen an, das Universitätssystem aufgrund der Arbeitssituation in den nächsten fünf Jahren verlassen zu wollen." (tasch, 30.4.2022)