Wladimir Putins Armee erweist sich seit dem Überfall auf die Ukraine als unfähig, seine Diplomatie als Fiasko. Aber der russische Diktator verfügt über eine Waffe, mit der er die westlichen Demokratien vor sich hertreibt: Er verbreitet Angst. Es ist die Angst vor einem dritten Weltkrieg, die Angst vor russischen Atomschlägen – und nun auch die Angst vor einem Gasboykott, der in vielen Nato- und EU-Staaten seit Monaten die öffentliche Debatte prägt.
Diese psychologische Taktik hat reale Folgen: Aus Sorge vor einer Eskalation haben die Nato-Staaten nicht nur jede direkte Intervention zur Verteidigung der Ukraine ausgeschlossen, sondern sind auch Waffenlieferungen langsam angegangen. Genützt hat das nichts: Die schweren Waffen, die die Ukraine seit langem fordert, werden nun doch geliefert, selbst Deutschland ist umgeschwenkt. Aber wären diese Panzer und Geschütze bereits vor einem Monat an der Front gelandet und nicht erst jetzt, wären die russischen Truppen im Donbass sicher langsamer vorangekommen.

Auch bei der Energie erweist sich die Ängstlichkeit des Westens als kontraproduktiv. Es ist nicht ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, das den Gaspreis in stratosphärische Höhen treibt, sondern die Angst vor zukünftigen Lieferausfällen. Diese wird von Putin bewusst angeheizt, indem er einzelnen Staaten die vertraglich vereinbarten Gasmengen verweigert. Das erhöht die russischen Einnahmen und bringt die EU in die Defensive.
Ausbau der Macht
Hätte die Union stattdessen schon vor Wochen einen allgemeinen Gasboykott angedroht und sich darauf mit konkreten Maßnahmen vorbereitet, so würde jetzt Brüssel das Geschehen bestimmen und nicht Moskau. Es gäbe dann weniger Angst in Europa, einen niedrigeren Gaspreis und einen Kreml, der sich dringend überlegen müsste, was er nun tun soll.
Wie andere Gangster beherrscht Putin die Taktik der Einschüchterung und nutzt sie zum Ausbau seiner Macht – zu Hause genauso wie international. Nur in der Ukraine hat das nicht gewirkt, der Mut von Präsident Wolodymyr Selenskyj und seiner Landsleute ist deren stärkste Waffe. Nun, da sich auch die westlichen Verbündeten angesichts der Brutalität immer weniger einschüchtern lassen, erhöht Putin den Einsatz. Anders kann man seine jüngste Drohung mit "blitzschnellen Schlägen" gegen Staaten, die der Ukraine helfen, nicht verstehen.
Die Regierung, die Putins Angstmache bisher am besten widerstanden hat, ist die britische; dort prägt das Beispiel von Winston Churchill die Politik bis heute, auch die von Premier Boris Johnson und seiner Außenministerin Liz Truss. Ihr forscheres Auftreten hat einen dritten Weltkrieg nicht wahrscheinlicher gemacht – im Gegenteil: Es war das Zögern in Berlin und anderswo, das die Eskalation gefördert hat, indem es Putin überzeugt hat, dass sich ihm niemand in den Weg stellen wird. Wie andere Tyrannen reizt ihn Furchtsamkeit viel mehr als entschlossener Widerstand.
Es ist richtig, wenn Nato und EU auf Putins Provokationen mit Umsicht reagieren; so würden etwa nukleare Gegendrohungen der Ukraine nichts bringen. Die Sorgen vor einer Ausweitung des Krieges sind berechtigt, aber sie dürfen die Politik des Westens nicht prägen. Wer sich einschüchtern lässt, stärkt den Aggressor – und bringt das, was man eigentlich vermeiden möchte, erst recht näher. (Eric Frey, 29.4.2022)