Vierzehn Jahre. Vierzehn lange Jahre sitzt Melissa Lucio bereits im Gatesville-Gefängnis in Texas, wegen Mordes an ihrer eigenen Tochter zum Tode verurteilt. Sie hat dort keinen Kontakt zu Mitgefangenen, verbringt die Zeit in einer kleinen Einzelzelle, die sie nur zweimal die Woche für eine Stunde verlassen kann.

Für diese Woche war eigentlich die Hinrichtung der 53-Jährigen geplant, doch sie wurde überraschend ausgesetzt. Neue Beweise für Lucios Unschuld sollen geprüft werden. Vorangegangen waren der Entscheidung Proteste von Menschenrechtsorganisationen, ein Dokumentarfilm, Empörung über die USA hinaus und sogar die Distanzierung einzelner Geschworener von dem Urteil. Auch Prominente wie Kim Kardashian und Susan Sarandon setzten sich für Lucio ein. Denn der Fall ist alles andere als eindeutig.

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Unterstützerinnen und Unterstützer von Melissa Lucio freuen sich, nachdem die Entscheidung verkündet wurde, die Hinrichtung vorerst auszusetzen.
Foto: Jay Janner/Austin American-Statesman via AP

Die zweijährige Mariah war 2007 tot im Haus der Familie aufgefunden worden, voller blauer Flecken und mit einem gebrochenen Arm. Nach Angaben von Lucios Anwälten war sie die Treppe heruntergefallen, zur medizinischen Vorgeschichte des Kindes gehörten schon zuvor Schwierigkeiten beim Gehen und wiederholte Stürze. Melissa Lucio, damals zwölffache Mutter und mit Zwillingen schwanger, wurde verdächtigt, ihre Tochter massiv misshandelt und getötet zu haben.

Stundenlanges Verhör

Lucio steht noch unter Schock, als sie kurz nach dem Tod ihrer Tochter von texanischen Ermittlern fünf Stunden lang verhört wird – ohne Essen, ohne Wasser, ohne rechtlichen Beistand. "Es sieht so aus, dass Sie eine kaltblütige Mörderin sind! Also, sind Sie eine kaltblütige Mörderin? Oder sind Sie eine frustrierte Mutter, die es einfach an ihr ausließ?", wird sie von den bewaffneten Männern angeschrien. Später versuchen sie es mit Entgegenkommen: "Sowas kann passieren. Wir machen alle Fehler."

Bis sie schließlich etwas sagen, was nicht der Wahrheit entsprechen kann: "Wir wissen bereits, was passiert ist." Denn im Fall Lucio gibt es weder eindeutige Beweise noch Zeugenaussagen. In den USA können Ermittlerinnen und Ermittler in den meisten Bundesstaaten in Verhören lügen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Ausnahmen gibt es in New York, Oregon, Illinois und Utah – in den drei letzteren Fällen allerdings nur, wenn es um minderjährige Verdächtige geht.

Auch in John Olivers "Last Week Tonight" wurde der Fall Lucio im Rahmen einer Sendung zu Polizeiverhören thematisiert.
LastWeekTonight

Lucio beteuert bei dem Verhör fast 100 Mal ihre Unschuld, was die Geschworenen allerdings nie erfahren. Sie bekommen den Videoausschnitt zu sehen, in dem Lucio nach stundenlangem Verhör und vollkommen eingeschüchtert sagt: "Ich glaube, ich habe es getan. Ich schätze, ich habe es getan." Und: "Was soll ich denn sagen? Ich bin dafür verantwortlich." Allerdings sagt sie das in Bezug auf Verletzungen ihrer Tochter, nicht den Mord.

Ihre Kinder sagten vor Gericht aus, dass Lucio ihnen gegenüber nie gewalttätig war. Lucios Anwälte legten Dokumente des Jugendamts vor, in denen wohl von Schwierigkeiten in der Familie die Rede ist, da sie mit Armut und Drogensucht zu kämpften hatte, aber nicht von Misshandlungen.

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Melissa Lucio mit ihrer Tochter Mariah auf dem Arm, die 2007 verstorben ist.
Photo courtesy of the family of Melissa Lucio via AP

Einem Sachverständigen zufolge hätte die traumatische Geschichte der Angeklagten mit emotional, körperlich und sexuell missbräuchlichen Beziehungen zu Männern sie anfällig dafür gemacht, Schuld auf sich zu nehmen. Doch die damalige Richterin entschied, dass die Aussagen des Psychologen für die Frage von Schuld oder Unschuld irrelevant seien.

Ein Gerichtsgutachten unterstellt Lucio Kindesmissbrauch, die Anklage stützt sich aber vor allem auf ihr "Geständnis". 2008 wurde sie des Mordes schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sieht "ernsthafte Bedenken hinsichtlich des Schuldspruchs und des Ablaufs ihres Prozesses". Das Völkerrecht verbiete auch die Hinrichtung von Personen, deren Schuld nicht in "eindeutiger und überzeugender Weise, die keine andere Erklärung des Sachverhalts zulässt", nachgewiesen wurde.

Berufungsgericht entscheidet über neuen Prozess

Lucios Hinrichtung ist nun vorerst ausgesetzt, bis das erstinstanzliche Gericht entscheidet, ob ihre Einwände berechtigt sind. Es wird eine Empfehlung an das Berufungsgericht in Texas abgeben, das schlussendlich entscheiden wird, ob Lucio einen neuen Prozess bekommt.

"Der vom Gericht gewährte Aufschub ermöglicht es uns, weiterhin an Melissas Seite zu kämpfen, um ihre ungerechte Verurteilung aufzuheben", sagte Lucios Anwältin Vanessa Potkin, nachdem die Aussetzung der Hinrichtung bekannt wurde. Lucio selbst äußerte sich "dankbar" gegenüber dem Gericht, das ihr "die Chance gegeben hat, zu leben und meine Unschuld zu beweisen". (Noura Maan, 29.4.2022)