Jóhann Jóhannsson wurde vor allem mit Soundtracks für Filme wie das Stephen-Hawking-Biopic "The Theory of Everything" oder Denis Villeneuves "Arrival" bekannt.

Jónatan Grétarsson

Spät, aber doch liegt nun beim Label Deutsche Grammophon ein Hauptwerk des 2018 im Alter von nur 48 Jahren verstorbenen Komponisten Jóhann Jóhannsson vor. Seine einstündige Komposition Drone Mass belegt nachdrücklich eines: Der Isländer zählte neben seiner für die Filmmusik von Joker mit einem Oscar ausgezeichneten Freundin und Kollaborateurin Hildur Guðnadóttir, dem ebenfalls aus Island kommenden Ólafur Arnalds oder auch der Britin Mica Levi zu den vielversprechendsten jüngeren Komponisten an der Schnittstelle zwischen Klassik und Experimenten im popkulturellen Umfeld.

Die Drone Mass wurde ursprünglich 2015 vor dem Tempel von Dendur uraufgeführt. Die altägyptische, um 15 vor Christus errichtete Weihestätte befindet sich nach einer Rettungsaktion 1962 aus dem Nassersee heute im Metropolitan Museum of Art in New York. Ein schönes Sinnbild auch für eine weltoffene Unbehaustheit, für die Jóhannssons Musik steht.

Unter der Leitung des Dirigenten Paul Hillier spielte ein Streichquartett gemeinsam mit seiner Vokalgruppe Theatre of Voices zu Jóhannssons live beigesteuerten Elektronikschlieren und Layers eine wilde Mischung.

Jóhann Jóhannsson

Lautmalerische Gesänge aus Kirchenschiffen der Renaissancezeit, die auf den frühchristlichen koptischen Nag-Hammadi-Schriften beruhen, dienen als Basis für dieses laut Jóhannsson "elektroakustische Oratorium". In dem fusionieren Gott und die Natur pantheistisch zu einer untrennbaren Einheit. Angesiedelt sind die Texte zwischen Auferstehung und Himmelfahrt. Sie werden mit zeitgenössischen Drones kombiniert. Vom englischen Wort "Drone", das nicht nur für Dröhnen und Brummen, sondern auch für die zwischen Himmel und Erde schwebende Drohne steht, ließ sich Jóhannsson ebenso inspirieren.

Sakrale Anmut

Die Musik beschwört die sakrale Anmut eines Arvo Pärt. Man verbeugt sich aber auch vor Minimal-Hausgöttern wie Philip Glass oder den pulsierenden Kompositionen Steve Reichs. Als jüngere Errungenschaften kommen Ambient, Dark Ambient und Geisterbahnbeklommenheit aus dem Laptop zum Einsatz. Keine Schönheit ohne Gefahr. Und bitte keine Reinheitsgebote.

Zumindest Menschen, die regelmäßig ins Kino gehen, dürfte Jóhann Jóhannsson kein Unbekannter sein. Der isländische Komponist erhielt 2015 einen Golden Globe für seinen Soundtrack der Stephen-Hawking-Biografie The Theory of Everything und wurde auch für einen Oscar nominiert. Ein wenig untypisch für seine Musik bewegte sich Jóhannsson dabei mitunter gefährlich in Richtung Esoterik, ja, Kitsch. Das kann schon einmal passieren, wenn man nachts in den Sternenhimmel schaut und über den Ursprung des Universums und von überhaupt allem nachdenkt.

Lakeshore Records

Der Sternenhimmel kommt auch im Film Mandy vor, allerdings regiert in diesem Rache- und Sektenthriller mit einem völlig entfesselten Nicolas Cage (die Badezimmerszene!) dann doch der Drogenmissbrauch. Das Okkulte bedingt auch Jóhannssons klar an schwerer nordischer Metalmusik orientierte Stücke. Bedrohlich verzerrte Bassfrequenzen der Gitarren des US-Dröhnland-Duos Sunn O))) sorgen ebenso für Endzeitstimmung wie der Komponist speziell für Denis Villeneuve in dessen Filmen Sicario und Arrival für unbehagliche Verstörung sorgte.

Vor allem im Alien-Thriller Arrival setzt Jóhannsson seine Kompositionsmethode effektreich ein. Einfache emotionale Direktheit und Melodien werden Richtung Meditationsklänge gedeutet, um gleich darauf mit einem Bläsersatz in den Abgrund brutaler Metalwelten getreten zu werden. Sollten außerirdische Heptapoden auf unserem Planeten tatsächlich einmal ein Konzert geben, es würde wahrscheinlich so klingen: New-Age-Mutter Enya (Only Time) trifft auf Black Sabbath und deren verkommene Schüler.

Körperliche Wucht

Aufgeboten werden Orchesterarrangements ebenso wie harsche Laptopklänge. Immerhin versuchte sich Jóhann Jóhannsson als Sohn eines IBM-Programmierers nach Anfängen in isländischen Indierock-Bands schon früh in elektronischer Musik, die der Autodidakt mit Posaune, Feedbackgitarre und verzerrten Instrumenten zu körperlich nicht immer als angenehm empfundener Klangwucht verdichtete.

Jóhann Jóhannsson - Topic

Neben seiner ebenfalls posthum erschienenen Regie- und Soundarbeit für den Science-Fiction-Film First and Last Men mit Tilda Swinton gilt Drone Mass nun als unverhofftes Hauptwerk. Zum einen ist in One Is True oder Tryptich In Mass liturgische Durchgeistigtheit zu hören wie zum anderen brachiale Endzeitstimmung in die Komposition kracht, The Last Foul Wind I Ever Knew.

Luftige Leichtigkeit mit körperlosen Engelsstimmen trifft auf tektonische Platten verschiebende Erdschwere. Am Ende dieser sich zu einem Crescendo mit Düsenantrieb aufbauenden Drone Mass endet alles in einem vom achtköpfigen Chor gehaltenen einzelnen Ton. Resignation oder Erlösung, dieses Ende bleibt offen. In den Nag-Hammadi-Schriften finden sich auch Auszüge aus dem eher inoffiziellen Thomas-Evangelium: "Jesus sprach: ,Ich bin das Licht, das über allen ist. Ich bin das All; das All ist aus mir hervorgegangen, und das All ist zu mir gelangt. Hebt einen Stein auf, und ihr werdet mich finden, spaltet ein Holz, und ich bin da.‘"

Jóhann Jóhannsson - Topic

(Christian Schachinger, 29.4.2022)