In den vergangenen Tagen rückte der De-facto-Staat Transnistrien zusehends in den Fokus des Ukraine-Konflikts. Im schmalen Landstrich, der offiziell zur Republik Moldau gehört, kam es zuletzt zu Explosionen, für die die Konfliktparteien unterschiedliche Erklärungsansätze haben. Was ist da los?

Frage: Wo liegt eigentlich Transnistrien, und was ist das für eine Region?

Antwort: Transnistrien hat alle Merkmale eines klassischen Staates: Flagge, Hymne, Regierung, Währung, Verwaltung und sogar ein definiertes Territorium, auf dem es all das ¬zelebriert. Letzteres ist aber sehr umstritten, weil es 1992 in einem kurzen, blutigen Unabhängigkeitskrieg von der damals frisch geborenen Republik Moldau losgerissen wurde. Rechtlich gehört das Staatsgebiet also zur Ex-Sowjetrepublik Moldau im Osten Europas. De facto ist der schmale Streifen Land zwischen dem Fluss Dnister und der ukrainischen Süd-West-Grenze aber bereits seit drei Jahrzehnten losgeeist vom Einfluss der moldauischen Hauptstadt Chișinău. International anerkannt wird Transnistrien dennoch von niemandem.

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Frage: Nicht einmal von Russland?

Antwort: Nein, auch die historische Schutzmacht Russland, ohne die Transnistrien wirtschaftlich nicht überlebensfähig wäre, hat es bisher nie offiziell anerkannt. Moskau soll den "eingefrorenen Konflikt" in der Region auch deshalb einer vollwertigen Anerkennung immer vorgezogen haben, weil man sich dadurch einen Hebel behält. So kontrolliert man nicht nur Transnistrien, sondern kann auch Druck auf Moldau ausüben, das formal neutral ist, aber seit geraumer Zeit immer mehr in Richtung EU schielt. Zuletzt intensivierten sich aber Sorgen, dass Transnistrien das Schicksal von Luhansk oder Donezk ereilen könnte.

Frage: Was würde das bedeuten?

Antwort: Die jüngere Geschichte hat der Welt zwei "russische Modelle" in Russlands "nahen Ausland" aufgezeigt. In Ersterem folgen auf die offizielle Anerkennung Russlands als eigenständige Republik Referenden, in denen die Eingliederung in die Russische Föderation formal gefordert wird. Bereits 2006 sprachen sich 97,1 Prozent bei einem international nicht anerkannten Referendum in Transnistrien für solch einen Anschluss aus. Die moldauische Präsidentin Maia Sandu lehnt die Abspaltung aber strikt ab und fordert stattdessen den Abzug russischer Truppen und plädiert für eine OSZE-Mission, was Russland ablehnt. Moskau nimmt aber oft auch den direkteren, militärischen Weg und marschiert unter dem Vorwand einer Unterdrückung oder Gefährdung der prorussischen Bevölkerung ein. Transnistrien wird zu je rund einem Drittel von moldauischen, ukrainischen und russischen Bevölkerungsgruppen bewohnt, Russisch ist aber die dominante, allgegenwärtige Sprache.

Die moldauische Präsidentin Maia Sandu will russische "Friedenstruppen" durch OSZE-Leute ersetzen.
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Frage: Was haben die Explosionen der letzten Tage damit zu tun?

Antwort: Noch ist unklar, wer für die Anschläge auf Funkmasten russischer Propagandaradiosender verantwortlich ist. Von ukrainischen Saboteuren, russischen Soldaten, die unter falscher Flagge eine Gefährdungslage provozieren wollen, bis Terroristen und russischen Kriegsgegnern wurde bereits vieles ins Spiel gebracht. Alles könnte letzten Endes dazu dienen, Moskau eine Rechtfertigung zu liefern, die Lokalbevölkerung zu "schützen".

Nach Explosionen in der Hauptstadt flogen auch zwei russische Funkmasten in Transnistrien in die Luft.
Foto: imago/SNA

Frage: In Transnistrien aber sind doch bereits russische Truppen stationiert.

Antwort: Genau. Seit dem Unabhängigkeitskrieg befinden sich permanent zwischen 1.500 und 2.000 russische Soldaten in Transnistrien. Rund ein Drittel von ihnen kümmert sich gemeinsam mit Moldau und Transnistrien um die Einhaltung des Waffenstillstands. Bei knapp 850.000 russischen Soldaten insgesamt machen sie freilich nur einen kleinen Anteil der russischen Armee aus. Im Konfliktfall würden sich aber wohl die rund 3000, prorussischen, transnistrischen Soldaten auf die Seite Moskaus stellen. Mehrere Tausend Reservisten aus dem 375.000 Menschen zählenden De-facto-Staat könnten außerdem aktiviert werden.

Frage: Aber wenn russische Truppen ohnehin schon in Transnistrien sind und Moskau das "Land" sowieso kontrolliert: Was will Moskau dann im aktuellen Konflikt noch erreichen?

Antwort: Militärexperten zufolge könnte Transnistrien als westliche Flanke in einem russischen Zangenangriff auf die wichtige südukrainische Hafenstadt Odessa fungieren. Der Vize-Kommandeur des zentralen russischen Wehrbezirks, Rustam Minnekajew, hat vergangenen Freitag auch angekündigt, dass "ein Korridor nach Transnistrien" Teil einer "zweite Phase" des Krieges sein könnte. Wichtige Brücken rund um Odessa wurden bereits beschädigt oder gesprengt, sodass der westliche Teil der Region Odessa nur noch über Moldau auf dem Landweg zu erreichen ist. Odessa von zwei Seiten zu verteidigen wäre für die ukrainischen Territorialverteidigungskräfte ungleich schwerer. Der Plan wäre also wohl, die wenigen Dutzend Kilometer von Transnistrien zum Schwarzen Meer zu schließen und dann weiter in Richtung Osten vorzustoßen. Der Osteuropa-Experte Marcel Röthig sieht für solch ein Manöver aktuell aber kaum Erfolgschancen. Eine Eskalation in Transnistrien könnte laut Röthig maximal dazu dienen, ein "Strohfeuer" zu entfachen, das ukrainische Kräfte im Westen bindet. Pikant ist Transnistrien aber auch, weil bei Kolbasna – nur zwei Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt – mit 20.000 Tonnen Kriegsmaterial aus Sowjetzeiten eines der größten Munitionsdepots Europas liegt. Auch die Ukraine könnte ein Interesse daran haben, würde mit einem Einmarsch rein rechtlich aber die territoriale Integrität Moldaus verletzen, was als unwahrscheinlich gilt. Laut transnistrischem Innenministerium soll es zuletzt von der Ukraine beschossen worden sein, und auch Drohnen will man über Kolbasna gesichtet haben. (Fabian Sommavilla, 29.4.2022)