Streikende Arbeiter im polnischen Gdynia im Jahr 2008: Anhand dieser Werft lassen sich veränderte Arbeitsbedingungen bestens veranschaulichen.

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Zusammen mit anderen Forschern untersuchte der in Wien lebende Sozialhistoriker Philipp Ther für das Buch In den Stürmen der Transformation: Zwei Werften zwischen Sozialismus und EU den Niedergang des europäischen Schiffbaus seit den 70er-Jahren und vor allem nach 1989.

Als Kulisse dienten dabei die Uljanik-Werft in Pula sowie die "Pariser Kommune"-Werft im polnischen Gdynia. Das Buch ergründet, wie die Unternehmen diese Zeitenwende erlebten und warum sie schließlich bankrottgingen.

Dabei geht es um den Mythos der Stunde null, um ein Produkt, das immer mehr seinen Sinn verlor, Arbeiter, die ihre Lebenswelten einbüßten, und die Frage, ob die EU mit ihrem Wettbewerbsrecht eine Traditionsindustrie zu Grabe getragen hat.

STANDARD: Was reizte Sie an dem Thema?

Philipp Ther: Die Transformation ist in den Politikwissenschaften primär als Prozess untersucht worden, der von oben gestaltet wird. Mich hat immer schon interessiert, was der große historische Prozess mit den Menschen und verschiedenen sozialen Gruppen macht. Dementsprechend haben wir dieses Projekt mit "Die Transformation von unten" benannt, um zu erfahren, wie Arbeiter und andere Schiffbauer bis hinauf zum Management mit dem atemberaubenden Wandel nach 1989 umgegangen sind. Die zweite Motivation war eine rein wissenschaftliche. In Polen und in Kroatien hat sich die nach 1989 entstandene Kultur der Offenheit gehalten, sodass man in den Archiven sehr gut an Materialien gelangt. Diese Funde wollten wir mit Oral History verbinden, also mit autobiografischen Interviews. Die Zeitzeugen, die 1989 schon nicht mehr jung waren, sind heute schon alt. Deswegen müssen wir die Zeit nutzen, wenn wir sie über diese turbulenten Zeiten befragen wollen.

STANDARD: Wenn wir an den Umbruch von 1989 denken, meinen wir damit auch, dass die sozialistische Planwirtschaft von heute auf morgen durch eine kapitalistische Marktwirtschaft ersetzt wurde. Warum ist diese Annahme zu eindimensional?

Ther: Das Jahr 1989 wird häufig als eine Art Stunde null betrachtet. Viele Veränderungen, die durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus verursacht wurden, kamen jedoch erst später in Gang. Die großen Privatisierungen etwa ereigneten sich ab Mitte der 1990er. Bis sich das neue Regiment in den Unternehmen bis auf die Ebene der Werkshallen durchgesetzt hatte, verging häufig noch einmal ein halbes Jahrzehnt. Daher muss man als Historiker immer in längeren Zeiträumen denken. Das gilt aber auch für die Zeit vor 1989. Denn die Öffnung gegenüber dem Weltmarkt geschah in den staatssozialistischen Ländern, insbesondere in Polen und in Jugoslawien, deutlich vorher.

STANDARD: Bereits mit der globalen Ölkrise 1973/74 wurde der Schiffbau schwer getroffen, was in den Staaten des Ostblocks bereits zu einer Abkehr von rein sozialistischen Wirtschaftsideen führte. Wieso?

Ther: Die Ölkrise hat sich in ganz Europa auf den Schiffbau verheerend ausgewirkt. Die Nachfrage brach massiv ein, nach der zweiten Ölkrise von 1979 kam es noch schlimmer. Während in der Folge in Westeuropa sehr viele Werften geschlossen wurden, wurden die Schiffbaubetriebe im östlichen Europa vor dem Bankrott geschützt und sogar ausgebaut. Das geschah durch massive Investitionen in neue Technologien wie etwa in Gdynia durch das 1976 errichtete Trockendock. Die Idee war, diese Investitionen über den Export und den Weltmarkt wieder hereinzuholen.

STANDARD: Hat das funktioniert?

Ther: Nein. Man könnte auch verkürzt zusammenfassen: Polen und Jugoslawien und somit der Sozialismus in diesen beiden Ländern sind durch und mit den Werften pleitegegangen. Der Schiffbau hat massive Verluste produziert und somit ähnlich wie in der DDR zur Überschuldung der staatssozialistischen Länder beigetragen. Dies hängt aber wiederum mit der Globalisierung und der Konkurrenz in Ostasien zusammen. Mitte der 1970er-Jahre begann – nachdem Japan schon Ende des Zweiten Weltkriegs in den Schiffbau eingestiegen war – vor allem Südkorea in den Weltmarkt einzutreten. Das Land investierte massiv in seine Werftindustrie, aber eben mit einem staatskapitalistischen Modell. Das hat im Gegensatz zum Staatssozialismus funktioniert.

STANDARD: Warum hat dies nicht bereits zu einem Ende der Werften im Ostblock geführt?

Ther: In den 1980er-Jahren hat sich der Nachfrageeinbruch nochmals deutlich verstärkt. Große Tanker waren nach der zweiten Ölkrise noch viel weniger gefragt. Die Staaten im westlichen Europa reagierten mit einem Subventionswettlauf, gegen den dann jedoch die Europäische Kommission eingriff. Sie verschärfte unter Jaques Delors das Wettbewerbsrecht, damit sich die einzelnen Mitgliedsländer nicht mehr mit Staatshilfen unterbieten. Die Werften im östlichen Europa litten unter diesem Subventionswettlauf, denn Jugoslawien und Polen konnten aufgrund ihrer hohen Auslandsverschuldung kaum noch mithalten. Aber der Schiffbau hatte als Symbol der industriellen Moderne eine große Bedeutung. Daher pumpten die sozialistischen Staaten weitere Gelder in die Werften, was zum Staatsbankrott Jugoslawiens beitrug und zur Schuldenkrise in Polen, das ab 1983 seine Kredite nicht mehr regulär bedienen konnte.

STANDARD: Warum hat man an den Werften und der Schiffbauindustrie überhaupt festgehalten?

Ther: Die letzte kommunistische Regierung Polen unter Mieczysław Rakowski wollte 1988 die unproduktivste Werft in Danzig pleitegehen lassen. Doch die Lenin-Werft besaß als Geburtsstätte der Solidarność-Bewegung neben Gdynia eine derartige symbolische Bedeutung, dass dies politisch schlicht nicht durchsetzbar war. Die von uns primär untersuchte Werft in Gdynia hatte eine Belegschaft von mehr als 10.000 Leuten und war politische bestens vernetzt, auch da kam eine Abwicklung nicht in Betracht. Die demokratisch gewählten Regierungen nach 1989 haben dieses Problem dann geerbt. Denn die Regierungsparteien hatten ihre Wurzeln ja in der Solidarność, weswegen sie sich an die Werften nicht herangetraut haben. Sie haben versucht, das Problem durch die Stundung von Schulden und ausstehenden Sozialbeiträgen zu lösen. Außerdem haben sie die Werften auch rekapitalisiert. Dadurch konnte es in Polen 1993 und auch in Pula 1995 einen Neustart geben.

STANDARD: Und führte dies zu einer besseren Situation für die Werften?

Ther: In der zweiten Hälfte der 1990er waren sie relativ erfolgreich. Das lag an den staatlichen Kapitalspritzen, dem wieder erholten Weltmarkt, den damals noch unterbewerteten Währungen und den geringen Lohnkosten. Diese Vorteile gingen nach der Jahrtausendwende verloren, weil im Vorfeld der EU-Erweiterungen die nationalen Währungen aufgewertet wurden. Die Lohnvorteile gingen ebenfalls zurück, weil die polnischen und kroatischen Arbeiter nicht zu chinesischen Löhnen arbeiten wollten und konnten.

STANDARD: Wir gehen ein paar Schritte zurück: Wie wirkte sich der Fastbankrott der Werften nach der besagten Zeitenwende aus?

Ther: Die Belegschaften wurden in den 1980er-Jahren nicht reduziert, in Jugoslawien gar nicht, und in Polen nur leicht – durch natürliche Fluktuation. Mitte der 1990er kam es zu einem massiven Stellenabbau, von dem die weibliche Belegschaft übrigens wesentlich stärker betroffen war. Durch Abspaltung von Betriebsteilen wie Ferienheimen, Kantinen oder Abteilungen im Gesundheitswesen. Zudem wurde der Arbeitsprozess umgestaltet und unter kapitalistischen Bedingungen sehr stark hierarchisiert. Danach gab es immer mehr Kommandos und Kontrollen von oben, was den Arbeitern gar nicht gefallen hat.

STANDARD: Sie sprechen von der berühmten Improvisationskunst der Ingenieure und Arbeiter.

Ther: So ist es. Die waren es wegen der sozialistischen Mangelwirtschaft gewohnt zu improvisieren. Und entsprechend erfindungsreich waren die Ingenieure, die dadurch auch ein hohes Maß an Selbstbewusstsein erwarben. Während der Hochkonjunktur Ende der 1990er-Jahre wurde sogar wieder Personal eingestellt, die Löhne stiegen ebenfalls. Aber in dieser Zeit kann man eine wichtige gesellschaftliche Veränderung beobachten: Die Arbeiterdynastien, in denen es selbstverständlich war, dass die Söhne denselben Weg einschlugen wie die Eltern, starben langsam aus. Die junge Generation wollte sozusagen nicht mehr den Blaumann tragen, sondern orientierte sich auf andere Branchen um oder zog später in andere Städte und Länder.

STANDARD: Warum hielt man überhaupt an dieser Industrie fest, obwohl sich im Zuge der Globalisierung auch China verstärkt in den Markt begab?

Ther: Für Jugoslawien und Polen war die Schiffbauindustrie Ende der Neunziger ein wichtiger Exportfaktor. Zwei polnische Werften befanden sich unter den zehn größten globalen Produzenten. Da wurde zumindest für eine gewisse Zeit großer Umsatz gemacht und immerhin eine schwarze Null geschrieben. So haben diese Werften schon zur wirtschaftlichen Entwicklung in ihren Ländern beigetragen.

STANDARD: War denn auch die Symbolkraft der Schiffbauindustrie ein Grund dafür, dass die Länder so stark an den Werften festhielten?

Ther: Ozeanfrachter sind das größte von Menschenhand gemachte bewegliche Objekt, darum bestaunen wir sie als Touristen in den Hafenstädten. In Pula geht diese Tradition auf das Habsburgerreich zurück, in Westeuropa ist sie teilweise noch älter. Transport- und Passagierschiffe sind wie gesagt ein Symbol der industriellen Moderne und des Fortschritts, die ab den 1970er-Jahren jedoch vom Flugzeugbau abgelöst wurden. Außerdem begriffen die Kommunisten den Schiffbau als den Kern einer viel breiter angelegten Industrialisierung. In dem Moment, wo man eine Werft gründet, braucht man Motoren, ein Turbinenwerk, Funktechnik und so weiter. Eben deswegen haben Südkorea und dann mit der Öffnung des Weltmarktes ab Mitte der 1980er China auf diese Industrie gesetzt. Weil es eben nicht nur bei den Schiffen bleibt, sondern eben auch zahlreiche Zulieferketten aufgebaut werden.

STANDARD: Die Arbeiter waren also an einem gewaltigen Produkt beteiligt, das in gewisser Weise die Überlegenheit des Staatssozialismus unter Beweise stellen sollte?

Ther: Ja. Die Schiffswerften waren eigene Lebenswelten – vor den Werkstoren, aber auch dahinter. Zu den Werften gehörten ganze Stadtviertel, die für die Arbeiter gebaut wurden. Mit Sporteinrichtungen und Kulturinstitutionen. Diese Lebenswelt ist ab Mitte der 1990er immer mehr wegrationalisiert worden. Und das Produkt, das einst in seiner Gesamtheit mit sehr viel Sinn aufgeladen war, machte auf einmal viel weniger Sinn.

STANDARD: Wie haben die Beschäftigten diesen Sinnverlust erlebt?

Ther: Die Umbruchzeit wird im Licht der eigenen Karriere natürlich sehr unterschiedlich bewertet. Das moderne Management, so haben wir festgestellt, hat die Identifikation mit dem Unternehmen verringert und damit eben auch die Lust, dort arbeiten zu gehen. Überhaupt hatten die Betriebe nicht mehr diesen hohen symbolischen Rang wie zur Zeit des Sozialismus. Aber das interessanteste Ergebnis lag darin, dass es selbst bei hochqualifizierten Facharbeiter und Ingenieuren, die nach 1989 sehr viel besser verdient haben, häufig zu einer Entfremdung kam. Obwohl sie sich mehr Konsumgüter leisten konnten – angefangen von besserer Kleidung, westlichen Autos oder Fernreisen –, war es so, dass die großen Werften und vor allem ihre Nachfolgebetriebe nicht mehr das gesamte Produkt hergestellt haben.

STANDARD: Auf einmal spürte der Arbeiter nicht mehr den Stolz eines Ozeanriesen beim Stapellauf.

Ther: So kann man es ausdrücken. Manche Unternehmen wie zum Beispiel der Nachfolgebetrieb in Danzig war nur noch eine Reparaturwerft. Die Firma, die seit 2009 die Betriebsanlagen in Gdynia nutzt, konzentrierte sich unter anderem auf den Bau von Schiffsbrücken. Im Rahmen der globalen Arbeitsteilung ist der Bau von Komponenten profitabler, doch damit waren viele Facharbeiter und die Ingenieure nicht mehr zufrieden. Man war eben nur noch ein kleines Rädchen in der globalen Arbeitsteilung und nicht mehr der Schiffskonstrukteur. Das ist ein Prozess, den man auch im Westen und bei uns in Österreich beobachten kann. Die Produktion wird immer arbeitsteiliger, man liefert vor allem zu und fertigt nicht mehr das Gesamtprodukt. Das verändert die Identifikation mit dem Unternehmen und dem Produkt.

STANDARD: War das politische Kapital für die Unternehmen nun eher ein Vorteil oder ein Nachteil?

Ther: Die Werftarbeiter besaßen ursprünglich ein starkes politisches Kapital, mit den Stahlarbeitern in Österreich vergleichbar. Dieses politische Kapital brachte ihnen in Krisenzeiten immer wieder Vorteile, trug aber nicht dazu bei, dass die Betriebe besser wirtschaften. Sie haben sich zu sehr auf die helfende Hand des Staates verlassen. Nur war der Staat aus finanziellen Gründen gar nicht in der Lage, wirklich zu helfen, zu investieren oder gar zu modernisieren. Es gibt ja Beispiele gut funktionierender Staatsunternehmen wie Wien Wohnen oder die kommunalen Energieunternehmen. Trotzdem hat sich Österreich seit Mitte der 1980er weitgehend von der verstaatlichen Industrie verabschiedet, weil sie zu viele Verluste produziert hat. Nach 1989 war es eigentlich gar nicht mehr denkbar, dass der Staat als erfolgreicher Unternehmer agiert, und insofern hat man sich in der Transformation eine Falle gegraben. Frei nach Christian Morgenstern: Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

STANDARD: Letztlich führten die EU-Beitritte Polens und Kroatiens zum Aus für die beiden Werften. Welche Konsequenzen hatte das Ende derTraditionswerften?

Ther: Die EU-Beitrittsländer haben das Wettbewerbsrecht unterschätzt und glaubten offenbar, dass der Staat einspringen kann wie zuvor. Staatsbeihilfen dürfen nach EU-Recht jedoch nur noch gezahlt werden, wenn sie der Umstrukturierung oder der Modernisierung gelten, aber nicht dem Abdecken von Verlusten. Die polnische Regierung, vor allem die erste von der PiS geführte, zahlte jedoch weiterhin Beihilfen, die dann für illegal erklärt und zurückgezahlt werden mussten. Damit war die Werft in Gdynia auf einen Schlag pleite. Und auch in Pula in Kroatien ging die Werft fünf Jahre nach dem EU-Beitritt Kroatiens bankrott.

Philipp Ther, Ulf Brunnbauer, Piotr Filipkowski, Andrew Hodges, Stefano Petrungaro, Peter Wegenschimmel,"In den Stürmen der Transformation. Zwei Werften zwischen Sozialismus und EU". 20,60 Euro / 419 Seiten. Suhrkamp, 2022
Cover: Suhrkamp Verlag

STANDARD: Kürzlich sind auch die MV Werften in Wismar bankrottgegangen. Ist damit das Ende einer europäischen Industrie besiegelt?

Ther: Die europäische Werftindustrie hat in den vergangenen 50 Jahren zahlreiche große Firmen verloren, die Marktanteile gingen an China. Es gibt zwar noch gut gehende Betriebe in Triest oder in Hamburg, aber eine Staatengemeinschaft, die wie die EU so stark vom Welthandel abhängig ist, braucht eigentlich eigene Kapazitäten auf diesem Markt, weil man sich sonst wieder in Abhängigkeiten begibt. Das grundlegende Problem ist aber, dass es im Bereich des Schiffbaus keine EU-Industriepolitik gibt. In anderen Bereichen, vor allem bei Airbus, hat man eine neue Industrie aufgebaut.

STANDARD: Plädieren Sie für eine Industriepolitik in diesem Bereich?

Ther: Ich bin kein Politiker, sondern Historiker. Ich sage es so: Es wäre unklug, den Schiffbau komplett aufzugeben, sonst macht man sich noch mehr von China abhängig. Vielleicht könnte man sogar von China lernen, wie es dort gelungen ist, diese und andere Industrien massiv aufzubauen und somit Wertschöpfungsketten zu schaffen. Das eigentliche Problem einer Industriepolitik der Europäischen Union liegt jedoch stets in der Aufteilung der Produktion zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten und deren jeweiligen Einzelinteressen. Aber es gibt ja noch die Überreste des europäischen Schiffbaus. Man sollte sich überlegen, um diese Kerne herum wieder verstärkt Industriepolitik zu betreiben, angepasst an die Herausforderungen des Klimawandels. Man soll verlorenen Industrien nicht hinterhertrauern, aber die Werften haben nicht nur Waren hergestellt, sondern auch Sinn für die Menschen. (Ingo Petz, ALBUM, 1.5.2022)