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Der Weg zu Birgit Niessner ist weit. Ihr Büro liegt im Norden des riesigen Gebäudes der Notenbank auf dem Wiener Otto-Wagner-Platz, vom Haupteingang geht es durch weitläufige und fensterlose Gänge zur Nordseite der Bank. Niessners Büro wird von einem modernen Gemälde dominiert, der "Königin der Nacht" von Malerin Saša Makarová.

STANDARD: Sie haben den offenen Brief etlicher Ökonominnen und Ökonomen unterschrieben, in dem Sie die Regierung auffordern, in der EU ein Embargo für Erdöl aus Russland zu unterstützen. Was wären die wirtschaftlichen Folgen für Österreich?

Niessner: Diesen Aufruf habe ich als Privatperson unterzeichnet, das ist keine Position der OeNB. Aus russischer Sicht entfallen acht Prozent aller Exporte auf Gas, aber 36 Prozent auf Öl. Der Druck auf die russische Wirtschaft ist also viel höher, wenn man beim Öl ansetzt als wenn man es bei den Gaslieferungen tut. Uns in Österreich täte ein Ölimportstopp viel weniger weh als ein Stopp von Gaslieferungen – aber auch darüber müssen wir weiter nachdenken. Die Effekte eines Gaslieferstopps hat die Notenbank in ihren Prognosen auch durchgerechnet, weil die österreichische Wirtschaft sehr stark von russischem Gas abhängig ist. Was ein Öllieferstopp bewirken würde, das haben wir nicht berechnet.

Selbst wenn das Gas aus Russland weiterfließt und der Krieg beendet wird, müssen neue Wirtschaftskontakte gefunden werden: OeNB-Chefvolkswirtin Birgit Niessner.
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STANDARD: Im Brief steht auch, es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass Putin einen Stopp von Ölkäufen seinerseits mit einem Gaslieferstopp beantworten würde. Käme der doch: Wäre Österreichs Wirtschaft am Boden?

Niessner: Ein Gaslieferstopp würde die österreichische Wirtschaft massiv treffen. Wir haben begonnen, den durchzurechnen, indem wir geprüft haben, welche Sektoren am meisten vom Gas abhängig sind, welche Sektoren an Selbige liefern und wo die gasintensiven Branchen Lieferanten für andere sind. Rechnet man das durch und geht man von einem Gasstopp ab Juni aus, kommt man für 2022 auf einen zusätzlichen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 3,1 Prozent. Das müssen Sie also von unserem Basis-Szenario abziehen, das für heuer von einem BIP-Wachstum von 3,5 Prozent ausgeht. Damit wären wir bei 0,4 Prozent. Generell bedeuten zehn Prozent weniger Gas einen Einbruch des BIP um 0,85 Prozentpunkte.

STANDARD: Die Wirtschaft würde bei einem Gaslieferstopp ab Juni heuer also nur um 0,4 Prozent wachsen?

Niessner: Nein, das ist eher noch nicht die ganze Wahrheit. Denn wenn man den Preisanstieg von Gas und anderen Rohstoffen mit einrechnet, kommt man auf einen Rückgang des BIP. Wie hoch der ist, haben wir aber nicht berechnet. Und: All das bezieht sich nur auf die Industrie, die Effekte auf die Haushalte sind da nicht inkludiert. Wir gehen davon aus, dass die weiterhin mit Gas versorgt würden.

STANDARD: Noch kurz zum Brief an die Regierung. Ist es nicht etwas feige, auf Öllieferungen zu verzichten, weil das Österreich nicht sehr schmerzen würde und Russland weiterhin an Gasverkäufen verdienen zu lassen?

Niessner: Das Ölembargo wird ja in der EU bereits diskutiert und dem ernsten Problem mit der Gasabhängigkeit wird sich Österreich sowieso stellen müssen. Das spüren wir jetzt schon bei den Preiserhöhungen und ein Lieferstopp hätte gravierendere Auswirkungen. Wir müssen sowieso strukturell nachdenken, wie wir unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern können.

STANDARD: Ein Schock, der notwendige Erneuerung bringt?

Niessner: Ein exogener Schock, wie jener der Corona-Pandemie. Die hat uns zwar wirtschaftlich sehr geschmerzt, aber zumindest bei der Digitalisierung vorangebracht. Ich will die Auswirkungen der Krise nicht klein reden – zumal alle Prognosen derzeit sehr unsicher sind, das muss ich betonen. Aber wir können die derzeitigen Entwicklungen als Weckruf dafür nehmen, zu schauen, wie wir unsere Abhängigkeit von fossilen Energiequellen vermindern können.

STANDARD: Wie gut könnte die Wirtschaft all das verkraften?

Niessner: Gesetzt den Fall, die Gaslieferungen enden im Juni und gehen im Jänner 2023 wieder weiter, wären das ähnliche Folgen wie in der Pandemie. Es würde einige Branchen strukturell besonders treffen, am stärksten die gasintensive Energieversorgungs-, Papier- und Bergbaubranche. Aber selbst wenn die Kampfhandlungen bald vorbei wären, wäre eine tiefgreifende Transformation die Folge, weil sich die geopolitischen Blöcke neu formieren würden. Was auch Österreich betreffen würde.

Im Juni 2018 feierten die OMV unter dem damaligen Chef Rainer Seele und die russische Gazprom das 50-Jahre-Jubiläum ihrer Zusammenarbeit.
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STANDARD: Wie lang wird Österreich die Auswirkungen des Kriegs spüren?

Niessner: In Jahren ist das derzeit nicht zu sagen. Bei der Pandemie gab es eine V-Entwicklung, das heißt, die Wirtschaftsleistung ist rasch abgefallen und hat sich dann rasch wieder erholt. Geld- und Fiskalpolitik haben gut zusammengespielt und das Wachstumsmodell an sich stand in Österreich nicht in Frage. Das sehe ich bei der jetzigen Krise anders. Selbst wenn das Gas weiterfließt, selbst wenn die Kriegshandlungen stoppen, müssen die Wirtschaftskontakte neu geordnet werden. Nach der Krise wird also eine L-Entwicklung folgen: In unserem Basisszenario – wenn das Gas also weiterfließt – rechnen wir mit einem Wachstum von 3,5 Prozent für heuer, mit 2,2 Prozent für nächstes und zwei Prozent für übernächstes Jahr. Wenn kein Gas fließt, sieht die Sache wie gesagt anders aus.

STANDARD: Und wann geht es in Ihrem Basisszenario wieder aufwärts?

Niessner: Das wird ein bisschen dauern: Wenn wir unsere wirtschaftlichen Probleme gelöst haben.

STANDARD: Sehen Sie und Ihre Ökonomen eigentlich noch andere ungesunde Abhängigkeiten in Österreichs Wirtschaft, die abgestellt gehörten?

Niessner: Das haben wir noch nicht geprüft und gehört auch nicht zu unserer Aufgabe. Unsere Ratschläge kämen wahrscheinlich auch nicht gut an, wir wollen ja auch keine Zurufe, was Zinsschritte betrifft. Auf strukturelle Entwicklungen weisen wir ja sehr wohl hin, Stichwort Digitalisierung oder Produktivität.

STANDARD: Noch zur Inflation, die lag im März bei fast sieben Prozent. Die OeNB rechnet fürs Gesamtjahr mit 5,6 Prozent. Müssen wir uns an derart hohe Inflationsraten gewöhnen?

Niessner: Wir rechnen mit einem sogenannten Inflationsbuckel, weil die Energiepreise eine große Rolle für die Preissteigerung spielen. Nach unseren Prognosen sollte die Inflationsrate nächstes Jahr bei 2,9 und übernächstes Jahr bei 2,3 Prozent liegen – vorausgesetzt, es kommt zu keinem Gaslieferungsstopp. Geht man von einem Gasausfall von 30 Prozent im heurigen Jahr aus, dann kommen wir heuer auf neun Prozent Inflation. Kämen 15 Prozent weniger Gas, lägen wir bei 7,6 Prozent. Aber wie gesagt: Unsere Prognosen sind derzeit mit größter Vorsicht zu genießen, derzeit weiß man einfach vieles nicht. Und zwei Angebotsschocks so kurz hintereinander, jenen aus der Pandemie und jenen aus dem Ukraine-Krieg: Das ist selten.

Viele warten auf den ersten Zinsschritt der Europäischen Zentralbank – wann er kommt, ist ungewiss.
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STANDARD: Die Europäische Zentralbank (EZB) steht unter Druck, viele erhoffen eine baldige Zinserhöhung. OeNB-Gouverneur Robert Holzmann rechnet für heuer mit zwei Zinsschritten, etliche EZB-Ratsmitglieder rechnen im Juni mit der ersten Erhöhung. Wie sehen Sie das?

Niessner: Wir stecken in einer schwierigen Situation, weil es einen Wachstumseinbruch gibt und die Preise steigen. Die EZB fährt auf Sicht und viele Marktteilnehmer gehen davon aus, dass es heuer noch Zinsschritte geben wird. Entscheiden wird das der EZB-Rat.

STANDARD: Sie wollen also nichts dazu sagen.

Niessner: Das ist Sache des OeNB-Gouverneurs, der im Rat Sitz und Stimme hat.

STANDARD: Glauben Sie, dass die Bekämpfung der Ukraine-Krise Europa enger zusammenführen wird?

Niessner: Ja, Europa rückt zusammen. Europa hat ja, wie man sagt, immer dann funktioniert, wenn es eng geworden ist, da hat man den nächsten Reformschritt genommen. Es gibt einen großen gemeinsamen Nenner, das spürt man auch bei den Zusammenkünften in der EZB, bei denen ich seit vorigem Herbst dabei sein darf.

STANDARD: Sie sind seit fast acht Monaten Chefin der OeNB-Hauptabteilung Volkswirtschaft. Was werden Sie denn ändern hier – abgesehen davon, dass Sie Desk-Sharing einführen und die Hauptabteilung in fünf Referate unterteilt haben? Referate gibt es sonst nicht in der OeNB.

Niessner: Stimmt, die führen aber zu flacheren Hierarchien und die passen sehr gut zu uns in der Volkswirtschaft. Ich will modernere Strukturen und leichtere Formate umsetzen. Die Herausforderung hier ist ja, das sehr, sehr spezialisierte ökonomische Wissen so knackig auf den Punkt zu bringen, dass man es einem breiten Publikum erklären und schmackhaft machen kann. Wir waren schon bisher kein Elfenbeinturm, aber wir arbeiten an unserem Außenauftritt gern weiter. (Renate Graber, 30.4.2022)