Selbst als 2019 in Afghanistan noch theoretisch Demokratie galt, wurden Spürhunde eingesetzt, um in Boxen mit Stimmzetteln Sprengstoff zu erschnüffeln. Der Idee freier Wahlen wurde mit Anschlagsdrohungen begegnet; heute herrschen wieder die Taliban.
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Lässt sich Demokratie messen? Mehrere Indizes versuchen sich zumindest daran. Als einer der bekanntesten preist der Democracy Index der Economist Intelligence Unit (EIU) sechzig Faktoren ein, etwa wie frei und geheim Wahlen stattfinden, wie unabhängig Gerichte und Medien arbeiten können, wie sehr Menschenrechte geachtet und Religionsausübung toleriert wird.

Jeder der 167 untersuchten Staaten wird so jährlich auf einer Skala von null bis zehn Punkten eingestuft. Die theoretische Null würde das denkbar autokratischste Regime darstellen. Tatsächlich nahm Afghanistan in der im Februar veröffentlichten 2021er-Ausgabe des Index mit 0,32 Punkten den letzten Platz ein. Zu den davorliegenden Myanmar (1,02 Punkte) und Nordkorea (1,08 Punkte) besteht bereits Respektabstand.

Dem Bestwert kam Norwegen mit 9,75 Punkten am nächsten, dahinter folgten Neuseeland (9,37 Punkte) und Finnland (9,27 Punkte). Österreich landete mit 8,07 Punkten auf Rang 20. Das ist aber nicht dem schlechten Abschneiden in den strukturellen Bereichen politische Teilhabe, Zivilrechte oder transparente Wahlprozesse geschuldet. Dort punktete Österreich ganz gut – im Gegensatz zu den Sphären politische Kultur und Funktionieren der Regierung. Wenig Wunder in einem Jahr, in dem erstmals ein Kanzler nach Ermittlungen wegen des Verdachts auf Untreue und Bestechlichkeit zurücktrat.

Große regionale Unterschiede

Wie viele Menschen leben nun in Ländern mit welchem Grad an Demokratie und wie haben sich die Verhältnisse in den Weltregionen zuletzt verschoben? Dazu lassen sich die Länder je nach erreichtem Wert in zehn Stufen segmentieren – mit 0,00 bis 1,00 Indexpunkten in die erste Stufe, mit 1,01 bis 2,00 Punkten in die zweite Stufe und so weiter bis zur zehnten und höchsten Stufe mit Ländern, die Werte zwischen 9,01 und 10,00 Punkten erlangten.

Beachten Sie bitte, dass in den folgenden Grafiken die Skalen der vertikalen Achsen an die jeweiligen Maximalwerte angepasst sind; auch wenn die Flächen gestapelt immer gleich hoch erscheinen, betreffen sie etwa im Asien-Diagramm ein Vielfaches der Menschen in den übrigen Diagrammen.

Die bevölkerungsreichste von der EIU definierte Region ist mit mehr als 4,2 Milliarden Einwohnern Asien und Australasien. Verschiebungen von Indien aus Stufe acht nach Stufe sieben und von China aus Stufe vier nach Stufe drei zeigen in der Grafik recht eindrücklich Demokratieverluste für mehr als 2,7 Milliarden Menschen. In der gesamten Region konnte sich nur Neuseeland kontinuierlich auf dem höchsten Level halten, aus dem 2020 selbst Australien fiel.

Der Nahe Osten wurde von den Gestaltern des Index mit Nordafrika in eine Zone gruppiert. Diese Region ist seit jeher von schlechten Noten geprägt. Ab der ersten Ausgabe 2006 lebten stets mehr als 80 Prozent der Bevölkerung in Ländern der unteren Hälfte des Bewertungskorridors (Stufen eins bis fünf).

Sub-Sahara-Afrika, die am schnellsten wachsende Weltregion, ist im Wortsinn bunt gemischt. Der absolut größte Teil der Menschen befindet sich in Staaten der mittleren Stufen vier bis sechs, nur wenige in wirklich autokratischen Regimen oder belastbaren Demokratien.

In Lateinamerika und der Karibik waren in den letzten Jahren besonders in bevölkerungsreichen Staaten Abfälle zu beobachten. Brasilien wurde von acht auf sieben zurückgestuft, Mexiko von sieben auf sechs. Staaten wie Venezuela und Nicaragua sackten innerhalb weniger Jahre gar von sechs auf drei ab.

Die Region Nordamerika schneidet traditionell gut ab. Doch auch hier verloren die beiden einzigen eingeordneten Staaten an demokratischem Moment; die USA wurden bereits 2016 von neun auf acht herabgestuft, Kanada im Vorjahr von zehn auf neun.

In der ersten Ausgabe des Index 2006 lebten noch 315 von 399 Millionen Menschen in Osteuropa in Ländern der Stufe sechs oder höher. 2021 waren es nur mehr 170 von 410 Millionen.

Der große Sprung 2018 geht vor allem auf die Abstufung Russlands von Kategorie vier auf Kategorie drei zurück. Im Folgejahr wurde die Russische Föderation wieder auf vier hochgestuft; angesichts des Krieges in der Ukraine ist beim Democracy Index 2022 wohl mit einer Revidierung zu rechnen.

Westeuropa zeigt sich überwiegend grün, innerhalb der höchsten drei Stufen gab es in den vergangenen Jahren wenige Verschiebungen. Das Segment mit zuletzt 85 Millionen Einwohnern, das 2017 von Stufe 6 auf 5 fiel, zeigt die Türkei, die die Macher eher etwas willkürlich dem Westen des Kontinents zurechnen.

Damit ergibt sich global folgendes Bild: Es leben heute rund 500 Millionen Menschen in Demokratien der höchsten beiden Stufen, die EIU nennt sie auch "vollständige Demokratien". Das entspricht nur etwa 6,4 Prozent der Weltbevölkerung. 15 Jahre zuvor waren es mit 844 Millionen oder 12,9 Prozent noch doppelt so viele.

Leicht zugenommen hat seit der ersten Edition des Democracy Index der Anteil der Bewohner "unvollständiger Demokratien" (Stufen sieben und acht), von 38 auf 39,4 Prozent. Ebenfalls gewachsen ist der Anteil der Bewohner von "Hybridregimen" (Stufen fünf und sechs), konkret von 11,4 auf 17,2 Prozent.

Auch wenn der Anteil an Menschen in "autoritären Regimen" (Stufen eins bis vier) proportional sogar leicht von 37,7 auf 37 Prozent gesunken ist, entspricht das wegen des seither stattgefundenen globalen Bevölkerungsanstiegs in totalen Zahlen einem Zuwachs von rund 2,5 auf 2,9 Milliarden Menschen.

Fast vier von zehn Individuen leben also in autokratischen Systemen fernab tatsächlicher Freiheit und Mitbestimmung. (Michael Matzenberger, 8.5.2022)