Als das Malen mit feinem Klimt-Pinsel noch geholfen hat: Der Textilfabrikant Merz (Herbert Föttinger, re.) im Austausch mit seinem Arzt (Marcus Bluhm).

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Die Erstaufführung von Tom Stoppards Leopoldstadt im Wiener Josefstadt-Theater hat noch gar nicht recht angefangen, schon schüttelt Hermann (Herbert Föttinger), Inhaber der Wiener Textilfabrik Merz und Söhne, ergrimmt das Haupt. Als glanzvoll assimilierter Jude erübrigt er für Theodor Herzls zionistische Idee – ein eigener Staat für die europäischen Juden auf Palästinas Boden – lediglich Skepsis. Man begeht den Weihnachtsabend des Jahres 1899.

Weil in Merz‘ Ringstraßenpalais zwei glücklich miteinander versippte Familien jüdisch denken, bei Bedarf jedoch auch christlich zu feiern verstehen, herrscht ein tolles Durcheinander. Die Damen stolzieren wie seidenknisternde Paradiesvögel durch den Salon. Man spürt das Reizklima gebändigter erotischer Konkurrenz, und das nicht nur, weil Hausherrin Gretl Merz (Maria Köstlinger) dem Fin-de-Siècle-Maler Gustav Klimt Modell sitzt. Hier, in dieser modellhaften Schaltzentrale Wiens um 1900, treffen grundgütige Ärzte mit Nähe zu Freud (Marcus Bluhm) auf versponnene, kurz vor dem Überschnappen stehende Rechenkünstler (Ulrich Reinthaller).

Die Türen der weißen Prachtwohnung sind hoch wie die Tempeltore (Bühne: Karin Fritz). Auf einer Couch, inmitten einer aufgeregten Kinderschar, thront die greise Clan-Mutter Emilia (Marianne Nentwich). Ihr gehören die ersten, von Daniel Kehlmann in ein perfektes Schnitzler-Deutsch übersetzten Pointen.

Alle christlichen Familienmitglieder nennt die Matriarchin sicherheitshalber "Papisten" oder "Konfuzianer". Man feiert die Wiederkehr des Josefstadt-Salons, eine Art Abgleich mit der hauseigenen, bürgerlichen Tradition. Der unvergleichlich kakanische Tonfall der vom Leben geplagten Hofmannsthal-Schwierigen schwingt hörbar nach. Als kostbarer Sound vermengt er sich sinnfällig mit Tonspur-Überresten aus einer anderen, deutlich problematischeren Moderne.

Autobiografisches Material

Überhaupt lässt sich Autor Stoppard, der seine eigene Autobiografie als Englandflüchtling zu Rate gezogen hat, nicht lumpen. Addiert man zu den Köpfen der Blutsverwandten die vielen Angeheirateten, erhält man ein Personenverzeichnis von annähernd 40 Individuen. Stoppards 2020 im Londoner Wyndham’s Theatre uraufgeführtes Stück ist vor allem eines: die Fortsetzung des Familienromans mit anderen, nicht durchwegs bühnentauglichen Mitteln.

Erzählt wird in wenigen, markanten Bildern die jüdische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Denn der Weg von Merz und den Seinen führt schnurgerade ins Verderben, will heißen: von der Marterstation der Verachtung, über die planmäßige Enteignung hinein in die physische Vernichtung.

Der Textilfabrikant muss sukzessive Federn lassen. Selten hat man Direktor Föttinger in seiner Eigenschaft als Charaktermime überzeugender gesehen, gefasster, zählederner, von hinhaltendem Widerstandswillen erfüllt. Immer schmuckloser wird sein bürgerliches Palais; immer enger müssen Kinder und Kindeskinder zusammenrücken, um der wachsenden Drangsal zu widerstehen.

Nicht bis ins Ziel

Leider trägt der hinreißende Plot der ersten Stückhälfte den Abend nicht bis ins Ziel. Der Seitensprung von Merz‘ Gattin, die eben Klimt Modell sitzt, aber mit einem k.u.k. Dragoner ins Bett geht, dient als Katalysator. Ausgespielt wird die Verachtung gegenüber den Juden, indem man sie – die man ohnehin nicht für voll nimmt – auch noch sexuell enteignet. Fritz (Roman Schmelzer), der "junge Offizier", liefert eine plausible Studie freundlich verbrämten Hasses. Man möchte zahlreiche Schauspielerinnen loben: Martina Ebm als lebenshungrige Tanzbiene des "Jazz-Age"; Joseph Lorenz als wahrhaft dämonischen, zum sittlichen Skelett abgemagerten Nazi-Schergen.

Und doch hat Regisseur Janusz Kica, zuletzt auf Erzähltheater abonniert, die Figuren allzu pauschal über die Bühne verteilt. Am Schluss werden die einzelnen Familienmitglieder aufgezählt, werden Schicksale knappest möglich rapportiert. "Selbstmord", "Hirntumor", "Steinhof", "Auschwitz": Der Name "Auschwitz" fällt sieben oder acht Mal. Der Applaus für diesen künstlerisch gewiss nicht großen, aber wichtigen Abend fiel hochachtungsvoll aus. Es ist das Wiener Josefstadt-Theater, das in den vergangenen 20, 30 Jahren die größte Verwandlung unter allen Wiener Bühnen vollzogen hat: weg vom reinen Amüsierbetrieb, hin zum Serviceangebot einer Moralprüfstelle. Man will eine solche Kultur des Eingedenkens nicht mehr missen. (Ronald Pohl, 29.4.2022)