Das einzige an der Gegenwart ausgerichtete Brauchtum sollte statt Dirndl und Tracht zum immateriellen Erbe der Unesco gehören, sagt die Ethnologin Elsbeth Wallnöfer im Gastkommentar.

Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig und SPÖ-Landesparteisekretärin Barbara Novak im Vorjahr auf dem Rathausplatz. Pandemiebedingt wurde der 1. Mai großteils virtuell gefeiert.
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Hierzulande wird viel Wert auf das Gewese um Tradition gelegt. Dirndl, Tracht, Goldhauben, Tiroler Schützen werden unter Einsatz lokalpatriotischer Liebesbekenntnisse und des Abbetens katholisch-bäurischer Traditionslitaneien eifrig auf eine Antragsliste zum Unesco-Weltkulturerbe gesetzt. Volkstumspolitische Narrative von Identität mit alkoholgeschwängertem oder weihrauchgesättigt-frömmelndem Tschingderassabumdulliöh assoziiert, "Volks"kultur eher im rechten Lager als bei Links verortet. Dabei sind die Maiaufmärsche eindrucksvolles Zeugnis ebensolcher, jenseits religiöser oder germanischer Prägung.

Nicht-Sozialdemokraten fremdeln jedoch mit dem Tag, man verweigerte den Aufmärschen ihre nationale "Brauchtauglichkeit".

"Volksfest"-Übernahmeversuche

Der Katholizismus, stets um Deutungshoheit bemüht, zeitigte, angetrieben von der Angst vor dem Kommunismus während des Kalten Krieges, in der Person Papst Pius XII. daher einen Versuch, den Tag im Sinne der Kirche einzunehmen. Der passende Heilige sei Josef, ein fleißig arbeitender Zimmermann, ideales Vorbild für die katholischen Arbeiter. Josefi sollte fortan am katholischen Vatertag (19. März) und am 1. Mai begangen werden.

Verkündet und gepredigt, hat sich der päpstliche Vorschlag nie wirklich durchgesetzt. Der 1. Mai blieb das Volksfest der Sozialdemokraten. Allen Übernahmebegehrlichkeiten aus dem konservativen Lager zum Trotz.

"Was ist morgen nicht schon das Relikt von heute?"

Zuletzt war es Österreichs genierlichste Familienministerin aller Zeiten, Sophie Karmasin, die danach trachtete, den Tag ganz abzuschaffen. Sie beabsichtigte einen süßlich idyllischen Familientag daraus zu machen. Der Tag der Arbeit sei ein "Relikt aus der Vergangenheit", meinte sie damals etwas zu selbstgewiss und vorbei an allen Realitäten. Die Claqueure aus den eigenen Reihen, sonst so versessen darauf, jedes Ziegenglöcklein zum Kulturerbe zu erklären, übersahen, dass mit dem Argument, Überbleibsel längst verstrichener Tage zu sein, die gesamte bisherige Nationalfolklore nolens volens abgeschafft gehörte. Was ist morgen nicht schon das Relikt von heute?

Vor diesem Hintergrund sind die 1.-Mai-Feiern das einzige dicht an der Gegenwart ausgerichtete Brauchtum. Jedenfalls zeitgemäßer als es die Tiroler Schützen sind.

Noch vor dem Papst und Frau Karmasins Bestrebungen versuchte sich die Hitlerei am inzwischen in "Nationalfeiertag des deutschen Volkes" umbenamsten Tag. Am 1. Mai 1938 waren der Wiener Ring samt Heldenplatz und die Jesuitenwiese mit überdimensionalen, germanischen Maibäumen ausstaffiert, unter diesen hopsten Pärchen im Dirndl deutsche Volkstänze. "Die Straßenzüge der Inneren Stadt, der Ring, die Mariahilfer Straße gleichen einem Wald aus Maibäumen. Die Häuserwände verschwinden hinter roten und goldenen Bändern, die von den grünen Kränzen der Maste niederhängen", hieß es im Neuen Wiener Journal. Schneidig aufgetanzt hatten damals allerdings nur die frisch geschlüpften Nazis, die Arbeitertrachten- und Arbeitervolkstanzvereine wusste das austrofaschistische Regime der 1930er-Jahre schon vorher zu verbieten.

Parteien, auf zum Volk

Vernachlässigen bestimmte Parteien das Jahr über die Anliegen von Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten, den 1. Mai allein den Sozialdemokraten zu überlassen, mag man sich auch nicht leisten. Unter Einsatz gut eingeübter Betroffenheitsgesten – letztes Jahr auch "Danke-Aktion" genannt – sucht man den Weg zum lohnsteuerzahlenden, in Staub geborenen Volk (Pöbel), heuchelt man Anteilnahme. Wer erinnert sich noch an den gemeinsamen Besuch von Sebastian Kurz und Werner Kogler in einem Pflegeheim, wo sie mit einem Schwall von Dankeswünschen im Gepäck vorbei an besseren Arbeitsbedingungen Interesse an deren Sorgen mimten? Jener Kurz, der die Sozialpartnerschaft, bis er sie in der Gesundheitskrise brauchte, abschaffen wollte, war das.

Der 1. Mai mit seinen Aufmärschen ist Brauch und Volksfest, gerade weil er der Realität der Lebenswelt entspringt und kein historisierendes Konzept nur für ein ethnisches Kollektiv ist.

Germanophile Landbräuche

Auf dem weitläufigen Land, wo ja bekanntlich alles "echte" Brauchtum auf die Welt kommt, kümmert der 1. Mai kaum jemanden. Mehrheitlich konservativ, huldigt die pagane Bevölkerung einem tendenziös germanophilen Brauchtum in der Nacht zuvor. Im Osten des Landes frönt man in der Frei- oder Walpurgisnacht archaischen Trieben und naturhaften Regeln. Die scheinfromm "Burschen" genannten Männer sitzen wie einst die wilden Germanen um ihren Maibaum und lobpreisen ihre Manneskraft. Im Dunst des Biernebels schielen sie nach rolligen, lederhosenbewehrten Männern aus der Nachbarschaft, die den Baum zu stehlen beabsichtigen, und erzählen sich, das wäre "echtes" Brauchtum.

Wen kümmert da die Stadt mit ihrem sozialdemokratischen Halbbrauchtum und irgendwelchen Forderungen nach einem sozial ausgewogenen Leben?

Aber zeugen nicht die 1.-Mai-Aufmärsche mit ihren wechselnden Plakaten, Pins, blumengeschmückten Straßenbahnen von der Kulturalisierung des Menschen, vom Bedürfnis, sich in der Lebenswelt rituell einzurichten? Die Maiaufmärsche sind wahrhaftiges Brauchtum, sie gehören in die Reihe des immateriellen Erbes der Unesco aufgenommen! (Elsbeth Wallnöfer, 1.5.2022)