Die Bevölkerung in der Ukraine (im Bild: Kiew) hofft auf ein baldiges Ende des Krieges. Doch wie dieser entscheiden wird, das weiß noch niemand.

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Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde ein Dominoeffekt ausgelöst, der die europäische Ordnung – manche sagen, gar die Weltordnung – nachhaltig verändern wird. Doch in welche Richtung die Steine kippen werden, ist selbst erfahrenen Analysten nicht komplett klar. Drei Szenarien wollen wir uns aber im Folgenden etwas genauer anschauen:

Szenario 1: Russland siegt

Darüber, wie ein Erfolg der russischen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld aussehen könnte, sind Expertinnen und Experten uneinig. Schlichtweg auch deshalb, weil das Ziel der von Moskau zynisch benannten "Spezialoperation" in der Ukraine unklar ist. Eine "Entnazifizierung", wie von Präsident Wladimir Putin gewünscht, kann es aufgrund der fehlenden Nazis in der Kiewer Regierung nicht geben.

Die Besetzung eines breiten Landstrichs im Osten der Ukraine, die Einnahme der Schwarzmeerküste bis nach Transnistrien oder die Vertreibung der Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj ins Ausland: All das könnte von Putin als Sieg verkauft werden, um den Einmarsch vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen.

Sollte tatsächlich die ukrainische Regierung beseitigt und durch ein prorussisches Regime ersetzt werden, würden sich die Europäische Union und die USA in einem lang andauernden Wirtschaftskrieg mit Russland befinden. Die westlichen Verbündeten würden darum kämpfen, ihre harschen Sanktionen gegen Moskau aufrechtzuerhalten, der Kreml würde wahrscheinlich mit Cyberattacken und Erpressung in Sachen Öl- und Gaslieferungen reagieren, schreiben Liana Fix und Michael Kimmage von der US-Denkfabrik German Marshall Fund im Magazin Foreign Affairs.

Unter dem Druck der Strafmaßnahmen könnte sich Moskau noch deutlicher China zuwenden. Die Führung in Peking geriete in ein Dilemma: Den Freunden in Moskau wirtschaftliche und eventuell militärische Hilfe zukommen lassen und dafür auf den westlichen Exportmarkt verzichten, von dem man so profitiert?

China und die USA könnten ebenso eine Zweckgemeinschaft eingehen, um die Machtbalance auf dem Globus zu erhalten: Jude Blanchette vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) beschreibt, dass Peking und Washington einander militärisch nützen – allein durch die Geografie bedingt stehe man "Rücken an Rücken" und müsste nicht über eine gemeinsame Grenze streiten, sondern die Macht in die jeweilige Richtung nach außen beweisen.

Szenario 2: Geteilte Ukraine

Wladimir Putin könnte sich damit zufriedengeben, dass die prorussischen "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk auch von Kiew als solche anerkannt werden und nicht mehr Teil der Ukraine sind. Eine Landverbindung über Mariupol bis hin zur bereits 2014 annektierten Krim-Halbinsel könnte dem souveränen Staat in Verhandlungen abgerungen werden.

Solche Gespräche – an deren Ende auch ein belastbarer Waffenstillstand steht – können laut Einschätzung von Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn erst stattfinden, "wenn beide Parteien erschöpft sind". Das bedeutet, dass "keine Geländegewinne, Durchbrüche oder Rückeroberungen zu erwarten sind", schreibt der Professor.

Im Fall einer geteilten Ukraine würde Kiew Sicherheitsgarantien von außen benötigen. China könnte sich als Friedensstifter ins Spiel bringen, da es einerseits mit Russland gegen die USA verbündet ist und andererseits wirtschaftlich eng mit dem Westen verbandelt ist, schreibt Heinemann-Grüder.

Eine Teilung wie auf der Mittelmeerinsel Zypern könnte Realität werden. Dort ist die von türkischen Truppen besetzte "Türkische Republik Nordzypern" nur von Ankara anerkannt, die Besatzung konnte einen EU-Beitritt der Republik Zypern aber ebenso nicht verhindern, wie eine russische Besatzung des Ostens wahrscheinlich keinen EU- oder Nato-Beitritt der Ukraine vereiteln könnte. Eine entmilitarisierte Zone zwischen dem ukrainischen und russischen Teil könnte von den Vereinten Nationen kontrolliert werden.

Szenario 3: Ukraine siegt

Bereits kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen war klar, dass dem Kreml ein kapitaler Fehler unterlaufen war: Man hat die Kampfbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung und der ukrainischen Armee stark unterschätzt. Man war in Moskau von einer Befreiungsmission ausgegangen, doch die Menschen in der Ukraine setzen sich vehement zur Wehr.

Mithilfe der Waffenlieferungen könnte es Kiew gelingen, die Invasoren zurückzudrängen. Unter dem Druck der Sanktionen und nach fehlendem militärischem Erfolg könnte Wladimir Putin auch die Unterstützung der Russen verlieren. Mit Kriegsende würde für die USA, die Nato und die EU der Wiederaufbau der Ukraine zu einer Herkulesaufgabe werden, schreiben Liana Fix und Michael Kimmage in Foreign Policy. Und der Westen dürfe nicht mehr beim Schutz der Ukraine versagen.

Der Schock in Europa über den Krieg auf dem eigenen Kontinent könnte zu einer Stärkung der europäischen Militärkraft führen, schreiben Mathew Burrows und Robert A. Manning für die Denkfabrik Atlantic Council. Es würde nicht überraschen, wenn Frankreichs "Force de Frappe" (militärische Schlagkraft) eine europäische Abschreckung gegenüber Russland und anderen Nuklearmächte werden könnte – unter Einbindung Deutschlands und Großbritanniens.

Was nach einem Machtverlust Putins mit Russland geschieht, steht in den Sternen. Das Land könnte auseinanderfallen, vor allem im Nordkaukasus, oder eine Militärdiktatur werden. Thomas Wright vom Thinktank Brookings schreibt dazu: "Wir befinden uns am Anfang einer neuen Ära. Anfänge können gefährlich sein." (Bianca Blei, 30.4.2022)