Wenn Wissenschafter und Wissenschafterinnen an die Grenze des Erklärbaren kommen, werden nicht selten Geister, Götter oder Dämonen angerufen.

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Geister, Götter und Dämonen haben nichts mit Wissenschaft zu tun. So möchte man jedenfalls meinen. Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt aber, dass das Übernatürliche stets dann an- oder ausgerufen wurde, wenn Forschende an fundamentale Grenzen stießen. In der modernen Physik hat es Albert Einsteins "spukhafte Fernwirkung" zu einiger Berühmtheit gebracht: Er attestierte der quantenmechanischen Verschränkung geisterhafte Eigenschaften, wollte sie doch so gar nicht zu seinem Physikverständnis passen.

Die mexikanisch-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Jimena Canales legte mit ihrem Buch "Bedeviled: A Shadow History of Demons in Science" (Princeton University Press, 2020) eine systematische Aufarbeitung des Geistertreibens in der Wissenschaft vor. Dabei zeigt sich, dass die Wissenschaft zwar seit jeher bemüht war, Aberglauben und Gespenster auszutreiben. Dennoch gab es immer wieder neuralgische Momente, in denen Wissenschafter oder Wissenschafterinnen übernatürliche Wesen erschufen.

Die Geister, die ich rief

Mit deren Hilfe sollten Gedankenexperimente ausgeführt werden mit dem Ziel, die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen ein Stück weit zu verschieben. "Wenn das Universum sich nicht so verhält, wie es sollte, verdächtigen Wissenschafter sofort einen Betrüger", beschreibt Canales den Prozess, durch den Geister die Bühne der Wissenschaft betreten. "Dämonen anzurufen erwies sich als nützliche Strategie, um die Lücken im vorhandenen Wissen zu füllen."

Ein prominentes Beispiel dafür ist der Laplace’sche Dämon. Erschaffen vom französischen Mathematiker Pierre-Simon Laplace im Jahr 1814, sollte dieses Wesen dank Kenntnis sämtlicher Naturgesetze und Startbedingungen in der Lage sein, jeden vergangenen und zukünftigen Zustand aller Teilchen im Universum zu berechnen. Der Laplace’sche Dämon ist die Personifizierung der ultimativen Berechenbarkeit des Kosmos. Freie Willensentscheidungen wären ausgeschlossen, alles unterläge einem strengen Determinismus.

Ist alles vorbestimmt, oder gibt es doch Zufälle und Handlungsspielraum?
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Determinismus oder freier Wille

Wie berechenbar, fundamental chaotisch oder zufällig die Welt ist, wird bis heute diskutiert. Auch der freie Wille ist eine wissenschaftliche Terra incognita. Mit dem Free Will Theorem legten die Mathematiker John Conway und Simon Kochen 2006 einen Vorschlag vor, wie sich die quantenmechanische Unbestimmtheit auf den freien Willen übertragen lässt. Erst vor wenigen Jahren legte Kochen mit einer noch detaillierteren Arbeit zum Thema nach. Ob es den freien Willen aber tatsächlich gibt und, falls ja, ob er quantenphysikalisch fassbar ist, bleibt umstritten.

Einen ebenbürtigen Gegenspieler fand der Laplace’sche Dämon jedenfalls in einem weiteren Geisterwesen: dem Maxwell’schen Dämon. 1871 sah sich der schottische Physiker James Clerk Maxwell mit folgendem Dilemma konfrontiert: Man stelle sich einen Behälter gefüllt mit Luft vor, der durch eine Trennwand mit einer verschließbaren Öffnung geteilt wird. Zunächst herrscht überall dieselbe Temperatur, es gibt also in beiden Teilen gleich viele schnelle wie langsame Moleküle. Ein übernatürliches Wesen, das die Molekülbewegungen sehen kann, könnte die schnellen Moleküle durch die Öffnung absondern – und schließlich aufgrund der Temperaturdifferenz eine Wärmekraftmaschine betreiben. Eine Energieerzeugung aus dem Nichts?

Während der Laplace’sche Dämon die ultimative Berechenbarkeit des Universums in den Blick nahm, lenkte der Maxwell’sche Dämon die Aufmerksamkeit auf den inhärent statistischen Charakter des Mikrokosmos. In gewisser Weise scheint ihnen beiden ein Funken Wahrheit innezuwohnen. Sie beide inspirieren die theoretische Physik bis heute – in diametral entgegengesetzter Weise predigen sie unbeirrbar ihre dämonische Agenda. (Tanja Traxler, 30.4.2022)