Der Pausenhof als erweiterter Kampfort: Nora und ihr Bruder Abel in Laura Wandels eindrucksvollem Schulmobbingdrama "Playground".

Stadtkino

Erhielt den Preis für den besten Spielfilm: "Cicha Ziemia/Silent Land" von Aga Woszcynska.

Foto: New-Europe-Film-Sales

Wer möchte, kann den Bierkonsum als Gradmesser verwenden. Der stieg am Linzer OK-Platz nämlich in den letzten Tagen überproportional, sodass frühzeitig Nachschub geholt werden musste. Nach den Turbulenzen der Pandemie ist das Filmfestival Crossing Europe wieder an seinem Frühjahrszeitpunkt zurück, und auch der Durst nach Austausch war groß. Etliche der heuer gezeigten Filme hatten ursprünglich Online-Uraufführungen, bei denen die Filme, wie es Regisseur Jakob Brossmann ausdrückte, wie in einem Spalt verschwinden.

Brossmann hat gemeinsam mit dem deutschen Architekturtheoretiker Friedrich von Borries einen Film realisiert, der auch deshalb gut zum "Neustart" passt, weil er mit dem Verharren auf Kontinuität Schluss machen will. Was wäre, wenn wir unser ganzes Tun darauf aufrichteten, gar keine Spuren mehr zu hinterlassen? Die Kunst der Folgenlosigkeit nennt von Borries diesen Diskussionsvorschlag, ein radikales Nachhaltigkeitsprogramm für einen geschundenen Planeten.

Bewährte Ausrichtung

Spannend an der Arbeit ist, wie sie die eigenen Ansprüche, ja die Rolle der Kunst hinterfragt: Muss man sich immer auf Erfolg ausrichten? Über einen Kurzspielfilmdreh, der ständig aus dem Ruder läuft, wird die Sloganhaftigkeit ökologischer Ansätze satirisch behandelt. Eine dokumentarische Rahmung, in der Mitwirkende wie Milo Rau über ihre politischen Intentionen reflektieren, zieht aber auch eine seriöse Ebene ein. Am Ende überwiegt eher die Skepsis gegenüber praktikablen Lösungen – aber das ist kein Nachteil, sondern auch ein Anfang.

Kontinuität lautet indes die Festivalmaxime unter der neuen Doppelspitze Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler. Sie haben in ihrem ersten Jahr die bewährten Programmstrukturen des Festivals noch unverändert gelassen. Dass dies kein Nachteil sein muss, demonstrierte unter anderem eine Spielfilmsektion, in der sich eine jüngere Generation europäischer Filmemacherinnen und Filmemacher mit originellen Erzählhaltungen hervortat.

Die deutsch-iranische Regisseurin Sabine Sarabi bleibt in ihrer Romanverfilmung Niemand ist bei den Kälbern beharrlich bei ihrer Protagonistin, der von Saskia Rosendahl mit brütender Intensität gespielten Jungbäuerin Christin, und nutzt zugleich die Felder von Mecklenburg-Vorpommern so souverän wie ein Breitwandwestern.

Langsame Entgleisung

Den Film kann man als Drama einer langsamen Entgleisung beschreiben: Die Anzeichen, dass die dem Leben zugewandte, unbefriedigte Christin unter groben Menschen auf dem Land eine Fremde ist, sind zuerst nur ansatzweise zu sehen; je länger man sie jedoch auf ihren Streifzügen begleitet, desto bestimmter wirkt ihr Widerstand und desto unausweichlicher die Katastrophe. Sarabi gelingt ein kunstvoll verschachteltes, auf kleiner Flamme glimmendes Frauendrama innerhalb ihrer Milieustudie.

Vielen Filmen des Festivals ist kein eigener Kinostart vergönnt, Playground der Belgierin Laura Wandel allerdings schon – die Gelegenheit sollte man schnell nutzen: Vom ersten Schultag an ist man hier an der Seite der schüchternen siebenjährigen Nora. Glaubt man zuerst noch, sie könnte dieser oft schon ähnlich harten Welt wie jener der Erwachsenen noch nicht gewachsen sein, verschiebt sich bald der Fokus: Ihr älterer Bruder ist das Mobbingopfer. Beeindruckend wie in einem Film der Brüder Dardenne wird in Wandels Blick das physische Prinzip von Nähe und Distanz, Abwehr und Zuwendung auch zu einer ethischen Frage. Der Film gewann den Publikumspreis. (Dominik Kamalzadeh, 2.5.2022)