"Die Jahreszeiten" durchstreifen die ganze Bandbreite eines Lebenszyklus – von großen Oratorienbildern bis hin zum menschlichen Mikrokosmos. Im Bild: Sonia Dvořák.

AshleyTaylor

Erst sieht es so aus, als hätte Martin Schläpfer, Chefchoreograf des Wiener Staatsballetts, in der Uraufführung seines abendfüllenden Werks Die Jahreszeiten die heftige Realität von heute ausgeblendet. Wer genau hinschaut, entdeckt zwar, dass dieser Eindruck täuscht, hätte am Ende möglicherweise aber eine deutlichere Arbeit erwartet.

Die Musik, auf die das Stück aufbaut, ist Joseph Haydns Jahreszeiten-Oratorium von 1801. Dazu passt dieses Ballett, weil Schläpfer auszuleuchten versucht, was im Tanz aktuell überhaupt zeitgemäß sein kann. Etwas Ähnliches unternimmt derzeit die postmoderne Choreografin Mette Ingvartsen, wie sie am Wochenende mit ihrem Solo The Dancing Public im Tanzquartier Wien zeigte. Die Dänin ist im Gegenwartstanz ebenso etabliert wie Schläpfer im Ballett. Beide wollen Gemeinschaftlichkeit zeigen, was sich dort wie da als echte Herausforderung entpuppt.

In der Staatsoper bietet Martin Schläpfer so gut wie seine gesamte Compagnie auf, um zusammen mit dem Orchester des Hauses am Ring unter Adam Fischer, dem Arnold-Schoenberg-Chor und Mylla Ek, die eine geniale Bühneninstallation realisiert hat, einen Zyklus des Lebens tanzen zu lassen.

Aufgeheiztes Klima

Eine Mammutaufgabe also, in der Musik und Text von der Wende ins 19. Jahrhundert mit Tanz und bildender Kunst wie aus dem späten 20. Jahrhundert verbunden werden. Das alles aber auf eine Art, die perfekt in unsere Zeit passt, in der "zeitgenössisch sein" ohne neue künstlerische Formen auskommt. Warum? Weil seit den Nullerjahren vorzugsweise alles mit allem vermischt wird.

So entschärfen sich zwar die einst verbissen geführten Auseinandersetzungen etwa zwischen Ballett und (post-)modernem Tanz – dafür haben sich die Konflikte zwischen "veraltet" und "heutig" auf die Ebene der Repräsentation verlagert. Das ist auch als Zeichen einer dynamischen Gesellschaft zu lesen, deren freie, offene Kultur sich gerade zwischen den Extremen Kommerz und Moralismus durchtestet.

In diesem aufgeheizten Klima suchen Schläpfer wie Ingvartsen mit jeweils unterschiedlichen Methoden ihren dritten Weg. Der Ballettchoreograf hat sich für eine historische Metaebene entschieden.

Verschwundener Stern

Dafür stehen die alte Haydn-Musik aus dem Orchestergraben und das moderne Ballett auf der Bühne ebenso wie Mylla Eks futuristische kinetische Skulptur hoch über den Köpfen der Tanzenden. In dieser Installation bewegen sich drei riesige gebogene Blechdreiecke langsam in konzentrischen Kreisen um ein unsichtbares Zentrum wie flache Planeten um einen verschwundenen Stern.

Der extrem facettenreiche, beinahe manische Tanz variiert die Handlung der im Oratorium erzählten Geschichte über das Eingebundensein in die Natur – der heute ziemlich exotisch, weil veraltet poetisch wirkende Text stammt von Gottfried van Swieten nach James Thomsons The Seasons. Die Farbigkeit der Kostüme, ebenfalls von Mylla Ek, wirkt genau kalkuliert. Gruppen in allen Größen erzeugen zusammen mit Duetten und Soli ein choreografisches Muster, in dem weniger das individuelle Schicksal, sondern vor allem das ausgesprochen widersprüchliche Treiben der Gemeinschaft betont wird. Ein Tipp: Wer den Text des Oratoriums versteht oder mitliest, kann auch die Feinheiten der tänzerischen Erzählung besser nachvollziehen.

Wilde Tanzmenge

Als Erzählerin betätigt sich auch Mette Ingvartsen in The Dancing Public. Die "Compagnie" der Choreografin besteht allerdings ausschließlich aus ihrem Publikum. Hier wird der gesamte Theaterraum zur Bühne und zeigt so einen Aspekt der zeitgenössischen Debatte um die Repräsentation: Die Grenzen zwischen Performerin und Besuchenden verschwimmen.

Tanzend und sprechend mitten im Publikum und auf drei Plattformen, nutzt Ingvartsen ebenfalls eine historische Komponente. Sie erzählt vom Phänomen der Tanzwut im Mittelalter oder von Tanzwettbewerben in den USA während der Depression in den 1930er-Jahren. Auch Ingvartsen versucht, eine wilde Tanzmenge zu erzeugen, doch das ist während der Tanzquartier-Wienpremiere nur ansatzweise gelungen. Im Vergleich mit den Raves der Nineties oder einer aufgeheizten Club-Menge, die im Bann von Einpeitschern an den Plattentellern in Ekstasen einschwingt, hatte es die künstlerische Einzelkämpferin nicht einfach.

Statt Massenmanipulation zu opponieren, versucht Ingvartsen, sie nachzustellen. Daher mündete, was sich am Beginn vielversprechend anließ, halt doch ins konventionelle Clubformat mit dem gewohnten Soundwummern. Im Gegensatz dazu war beispielsweise Gisèle Viennes Rave-Stück Crowd, das die Wiener Festwochen 2018 eingeladen hatten, spannender. Eben weil es da nicht einfach um Immersion ging, sondern – hier näher bei Schläpfer – um die Ambivalenz der Gemeinschaftsbildung beim Feiern und Abtanzen. (Helmut Ploebst, 2.5.2022)