"Die Orks haben sich unseres skythischen Goldes bemächtigt", berichtete Iwan Fjodorow. "Orks" ist das ukrainische Schimpfwort für die russische Armee, der Melitopols Bürgermeister den Raub eines Kulturschatzes seiner Stadt vorwirft. Der mehr als 2300 Jahre alte skythische Goldschatz stammt aus dem Melitopol-Kurgan und besteht aus zahlreichen verzierten Objekten.

Melitopol wurde bereits am 26. Februar, zwei Tage nach Kriegsbeginn, von den Russen besetzt. Die Direktorin des Melitopoler Heimatkundemuseums, Leila Ibrahimowa, hatte sich darum gekümmert, dass der Goldschatz rechtzeitig in ein Versteck im Keller des Gebäudes gebracht wurde. Mitte März jedoch entführten schwerbewaffnete Soldaten Ibrahimowa aus ihrem Haus und ließen sie erst nach einem langen Verhör wieder frei. Danach gelang ihr die Flucht.

Vergangene Woche wurde sie von einer Mitarbeiterin kontaktiert, die ihr vom Raub des Skythengoldes berichtete. Russische Soldaten in Begleitung eines russischsprechenden Mannes in weißem Kittel hätten sie unter Waffengewalt ins Museum gebracht und nach dem Schatz gefragt. Obwohl sie die Antwort verweigerte, wurde das Versteck mithilfe von Ewgeni Gorlachew, dem von den Russen installierten Museumsdirektor, entdeckt.

Raub mit Kamerateam

Die russischen Besatzer haben keine Scheu, das Verbrechen offen zuzugeben: Bei dem Raub war sogar ein Kamerateam anwesend. In einem Interview im russischen TV erklärte Gorlachew, der Schatz habe einen "großen kulturellen Wert für die ganze frühere Sowjetunion".

Die Sammlung des Melitopoler Heimatkundemuseums umfasste vor dem Krieg rund 60.000 Objekte. Das Museum beherbergte eine numismatische Kollektion ebenso wie lokale Textilien, Möbel, Porzellan und Keramik. Die naturwissenschaftliche Abteilung verfügt über Sammlungsstücke aus den Bereichen der Geologie, Botanik, Zoologie und Paläontologie. Darüber hinaus wurde die regionale Geschichte mit historischen Fotos, Dokumenten und Büchern illustriert. "Dies ist eine der größten und wertvollsten Sammlungen in der Ukraine, und heute wissen wir nicht, wo sie sie hingebracht haben", sagte Fjodorow.

Eine andere große Sammlung von skythischen Goldkunstwerken blieb der Ukraine dank einer glücklichen Fügung erhalten: Als 2014 die Krim annektiert wurde, befanden sich zahlreiche Objekte aus Museen der Halbinsel gerade als Leihgabe in den Niederlanden. Dort entschied im vergangenen Oktober ein Gericht, dass die Stücke, darunter ein verzierter Goldhelm, an Kiew zurückzugeben sind.

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Dieser skythische Goldhelm stammt aus der Sammlung eines Museums auf der Krim und entkam dem russischen Zugriff, weil er sich zum Zeitpunkt der russischen Annexion der Halbinsel als Leihgabe in den Niederlanden befand.
Foto: AP / Peter Dejong

Spitze des Eisbergs

Das verschwundene Skythengold ist nur die Spitze des Eisbergs. Russland bedient sich offenbar im großen Stil an den Vorräten der Ukraine. Am Samstag erklärte der Vizelandwirtschaftsminister Taras Wysotskyj, die Russen hätten mehrere Hunderttausend Tonnen Getreide gestohlen. Weitere 1,5 Millionen Tonnen, die in den von der russischen Armee besetzten Gebieten lagern, könnten ebenfalls dem Raubzug zum Opfer fallen, befürchtet Wysotskyj. Landwirtschaftminister Mykola Solskyj zufolge hat der Diebstahl des Getreides zuletzt zugenommen. Das Außenministerium in Kiew erklärte, das russische Vorgehen bedrohe die globale Ernährungssicherheit. Im Süden stehe bald die Weizenernte an, sagte Solskyj: "Die Bauern könnten in dieser Situation sagen: ‚Hier sind die Schlüssel für den Traktor – geh und hol ihn selbst ab, wenn du willst.‘" Doch auch in den Bereichen der Kohle- und Gasindustrie hat die russische Invasion für Moskau eine wirtschaftliche Motivation: Kann die rohstoffreiche Ostukraine unter Kontrolle gebracht werden, hätte Russland auf dem europäischen Energiemarkt eine noch viel mächtigere Position als bisher.

Aber nicht nur im großen Maßstab wird geplündert, auch auf individueller Ebene eignen sich die russischen Soldaten offensichtlich an, was sie vorfinden. So wurde Berichten zufolge in der Stadt Irpin die Leiche eines erschossenen Russen gefunden. In seiner Schutzausrüstung hatte er die Kevlar-Schutzplatte durch ein gestohlenes Macbook ersetzt.

Basar mit Diebesgut

Anfang April tauchten Berichte von einem regelrechten Basar in der belarussischen Stadt Naroulja nahe der ukrainischen Grenze auf. Hier verkaufen russische Soldaten die Beute aus ihren Raubzügen an die lokale Bevölkerung. Das beginnt bei Waschmaschinen, Motorrädern und Mobiltelefonen und geht bis zu Kinderspielzeug und Unterwäsche. Neues Raubgut wurde mit täglichen Konvois aus dem überfallenen Nachbarland herbeigekarrt.

In der belarussischen Stadt Masyr wiederum zeigen Videos von Überwachungskameras, wie russische Soldaten massenweise Raubgut per Paketdienst nach Hause verschicken lassen. Für die Belarussen ist die Entwicklung nicht überraschend: Schon vor dem Beginn des Krieges verkauften die in der Region stationierten russischen Soldaten immer wieder von ihren eigenen Einheiten abgezweigten Diesel an die Einheimischen. (Michael Vosatka, 1.5.2022)

Eine Protestaktion gegen die russischen Kriegsverbrechen von dem russischen Konsulat in Lwiw.
Foto: AFP/Dyachyshyn