Ob wir Brüste zeigen dürfen oder nicht, orientiert sich schlicht auch an den unterschiedlichen Regeln für die Geschlechter.

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Im beschaulichen deutschen Göttingen findet in den nächsten Monaten die Testphase für eine kleine Revolution statt. Vergangenen August verwies man dort eine Person wegen "entblößter Brust" eines Schwimmbads und erteilte ihr Hausverbot.

Was folgte, waren zahlreiche Berichte in überregionalen Zeitungen, die Gründung des Aktionsbündnisses "Gleiche Brust für alle" und eine Petition, die eben genau das fordert: Schluss mit der übergriffigen Reglementierung und Sexualisierung von weiblich gelesenen Körpern. Schluss mit den doppelten Standards.

Bevor bei einigen von Ihnen wieder der "Er hat weiblich gelesene Körper geschrieben, was ist das denn für ein Gendergagagutmensch, haha"-Reflex einsetzt, lassen Sie uns das kurz klären. Dreimal ja: Ja, es gibt auch Männer mit Brüsten. Ja, es gibt auch nichtbinäre Menschen, die in unserem üblichen Verständnis von Zweigeschlechtlichkeit überhaupt nicht repräsentiert werden. Und ja, selbst wenn Sie Geschlecht anhand von äußeren Merkmalen richtig zuordnen, bliebe trotzdem die Frage offen, warum für einige Brüste andere Regeln gelten sollten als für andere.

Deshalb weiblich gelesene Körper. Es geht um Frauen und um Menschen, die für Frauen gehalten werden. Dieser Personenkreis wird mit spezifischen Regeln belegt. Unter anderem mit der, dass er sich die Brüste in Schwimmbädern zu verhüllen hat. Oder im Hochsommer nicht oberkörperfrei durch den Park joggen darf. Nicht nur weil es als unschicklich gilt, sondern weil es "öffentliches Ärgernis erregen" könnte. Mit dieser Regel wird nun von Mai bis August in Göttinger Schwimmbädern gebrochen. Zumindest an Wochenenden. Dann dürfen alle Badegäste oberkörperfrei schwimmen. Bemerkenswert ist nicht nur die Aktion an sich, sondern auch die Begründung, warum dies nicht schon eher möglich war. So teilte der Geschäftsführer der Göttinger Sport- und Freizeit GmbH mit, dass es prinzipiell um den "Schutz der Intimsphäre der Badegäste" gehe. Und weiter: "Das Schwimmbad soll sozusagen nicht zum Schauplatz von triebhaften Personen werden, sondern dem unbeschwerten Freizeitspaß aller im Wasser dienen."

Mit anderen Worten: Wer seine Brüste mit ins Schwimmbad bringt und dort vor allen Leuten auspackt, provoziert damit womöglich triebhafte Personen. Das erinnert auf ausgesprochen unangenehme Weise an die vielen anderen Regeln des Einschränkungskatalogs für Frauen und weiblich gelesene Menschen: Man macht ihnen Kleidervorschriften, rät ihnen von aufreizendem Verhalten (was immer das sein soll), übermäßigem Alkoholkonsum und Spaziergängen nach Einbruch der Dunkelheit ab. All die Dinge also, die uns so lachhaft erscheinen, wenn wir sie auf eine andere Gruppe anwenden.

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Brüste erregen also: öffentliches Ärgernis, Triebe, Begehrlichkeiten. Brüste sollen bedeckt werden, damit man(n) sich nicht an ihnen erregt und zu Übergriffigkeiten eingeladen fühlt. Diese Art der Argumentation macht sich nicht einmal die Mühe zu verschleiern, dass es hierbei nicht um Anstand, Scham oder die Grenzen des guten Geschmacks geht. Es geht um die Annahme der grundsätzlichen Verfügbarkeit von Brüsten, die durch das Einhalten einer bestimmten Kleider- und Verhaltensordnung innerhalb von Geschlechterzwängen in angeblich zivilisatorische Schranken gewiesen werden soll. Tatsächlich ist es genau andersherum. Brüste im Speziellen sind wie Körper im Allgemeinen zunächst einmal für alle anderen unverfügbar. Brüste zu haben verpflichtet niemanden zu irgendetwas. Der Anblick von Brüsten berechtigt zu nichts. Brüste sind keine Einladungen ersetzen keine Einvernehmlichkeit. Trotzdem haben wir uns darauf verständigt, sie vor Blicken zu verhüllen, anstatt die Intention der Blicke zu hinterfragen. Es ist wie die Dichterin Rupi Kaur schreibt:

"Ihr wollt das Blut und die Milch verborgen halten, als ob Schoß und Brust euch nie genährt hätten."

Wir problematisieren die Körper von Frauen und weiblich gelesenen Personen, weil wir die Behauptung ihrer universellen Verfügbarkeit und das sich daraus abgeleitet Zugriffsrecht nicht antasten wollen. Wir machen unsere Ansprüche geltend. Wir bestehen auf Besitzstandswahrung. Brüste, Nacktheit, kurze Röcke, Alkoholisierung und "aufreizendes Verhalten" dienen uns nur zur Rechtfertigung, um nicht den sexistischen, misogynen Tatsachen ins Auge sehen zu müssen.

MTSU Health Promotion

Also Brust raus, wer hat und will. In Göttingen und anderswo. (Nils Pickert, 2.5.2022)