In gewisser Weise konnte Sascha Horst sogar seinen Großvater bekehren. "Hokuspokus nennt mein Opa das, was ich mache. Dabei schmeckt ihm der ayurvedische Eintopf meiner Großmutter ausgesprochen gut. Er weiß halt nicht, dass Ingwer drin ist."

Das, was Horst macht, nennt er Bayurvida: die Vermählung einer uralten indischen Ernährungslehre mit regionalen Zutaten und Rezepten. Frühlingslauchsuppe mit Vanille, Kurkuma-Fruchttopfen-Auflauf oder Wurstsalat mit Selleriesamen, wenn möglich selbstgepflückt. "Wenigstens eine Mahlzeit am Tag ist bei mir ayurvedisch", erklärt der 38-Jährige. "Seither sind meine Heißhungerattacken Geschichte. Ich steh zu dem, was ich tue."

In Garmisch-Partenkirchen kann man neuerdings "Bayurvida" genießen, eine Art Ayurveda mit regionalen, bayerischen Zutaten – und einer Prise Yoga.
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Schauplatz dieses ungewöhnlichen Experiments ist das im Windschatten der Zugspitze gelegene Garmisch-Partenkirchen. Historisch eher unfreiwillig ineinandergewachsen, kommen hier auf 26.000 Einwohner fast ebenso viele Gäste pro Jahr. Die Fußgängerzone ist gesäumt von Schokoladenfabriken, stuckverzierten Holzgiebelhäuschen und Fassaden mit König-Ludwig-II.-Porträt.

Für geschmacklose Après-Ski-Bars weicht man besser ins nahegelegene Tirol aus. Im Ortsteil Garmisch befindet sich der Staudacherhof, ein irgendwo zwischen Bauernhaus und Bayernschloss angesiedeltes Hotel mit Zwiebeltürmchen, Holzbalkonen und Familienwappen. Hier ist Sascha Horst Küchenchef.

Patentierter Begriff

An einem Dienstag kurz vor Ende der Wintersaison sitzt der 38-Jährige im Kaminzimmer des Hotels, vor einem Glas angereicherten Wassers. Kochjacke, tätowierte Unterarme, zimtbraune Haare, ein wacher Blick: Zwar wirkt er nicht wie jemand, der gerade von einer Detoxkur kommt, aber doch ausgeruhter als viele seiner Kollegen.

Hotel Staudacherhof in Garmisch-Partenkirchen
Foto: Staudacherhof/Wolfgang Ehn

Nach Stationen in der Schweiz und im Tiroler Berwang landete der Ostdeutsche 2006 an seinem jetzigen Arbeitsplatz. "Mir fiel auf, dass unsere Gäste keine Lust auf Schäumchen hatten, zudem nahm die Zahl an Vegetariern, Veganern und Unverträglichkeiten zu." In München ließ er sich 2013 zum Ayurvedakoch ausbilden.

"Irgendwann habe ich mich gefragt, ob ich aus Südostasien importierte Gewürze nicht durch heimische ersetzen kann. Und das geht: Kurkuma durch Brennnessel, Leinsamen statt Chiasamen, Kren statt Chili." Über 280 Gewürze finden im Ayurveda Verwendung, von den 36, mit denen Horst arbeitet, sind rund 15 regional. 2017 hat Hotelinhaber Peter Staudacher den Begriff "Bayurvida" patentieren lassen.

Trendige Nähe

Heimat ist in Bayern ein großes Wort, mit dem sich sogar Wahlkämpfe gewinnen lassen. Nicht nur dort, sondern in ganz Mitteleuropa ist Heimat auf dem Teller gerade sehr angesagt. Alles soll saisonal sein und von möglichst nah kommen, bestenfalls kennt man den Bauern beim Vornamen. Gleichzeitig ist Gesundheit das Gebot der Stunde, und auch die fängt bekanntlich auf dem Teller an.

Allen Hotelgästen steht bei jeder Mahlzeit mindestens ein bayurvidisches Gericht zur Auswahl.
Foto: Staudacherhof/Wolfgang Ehn

Bayurvida macht sich diese beiden Trends zunutze. Es folgt dem vor 5.000 Jahren in Indien entstandenen Ayurveda, das Menschen in drei Temperamente, sogenannte Doshas, einteilt, an denen sich der Speiseplan orientiert. Abgesehen davon gilt etwa der Verzicht auf kalte Speisen und Rohkost und dass jede Mahlzeit sechs Geschmacksrichtungen enthalten soll, nämlich süß, sauer, salzig, bitter, herb und scharf (das derzeit kultisch verehrte Umami fällt aus).

Nicht überall stieß die neue gastronomische Ausrichtung des Staudacherhofs auf Zuspruch. Manche im Ort raunten "Voodookoch", und die fehlenden Wahlmöglichkeiten vergraulten einige Stammgäste. Inzwischen ist Bayurvida ein zusätzliches Angebot, keine Pflicht. Horsts mildes Urteil: "Wir wollen niemanden bekehren."

Yoga am Berg

Allen Hotelgästen steht bei jeder Mahlzeit mindestens ein bayurvidisches Gericht zur Auswahl. Beim Frühstück ist das etwa Milchreis mit Trockenobst, beim Mittagessen eine Reis-Zitronen-Suppe mit Kerbel. Abends gibt es Topinambur im Nussmantel, Topfencreme mit Rosenwasser oder Knödelgröstel mit Senf- und Fenchelsaat. Wer eine dreitägige Ayurvedakur bucht, bekommt zusätzlich Seidenhandschuhmassagen und private Yogastunden.

Unter anderem werden auch Gesichtsmassagen angeboten.
Foto: Staudacherhof/Wolfgang Ehn

Verantwortlich dafür ist Cristian Zanfir, ein durchtrainierter Rumäne, der aussieht wie ein indischer Märchenprinz. Yoga ist in der indischen Kultur ähnlich fest verankert wie Ayurveda. Zanfir folgt den Prinzipien des meditativen, atemfokussierten Aranja-Yogas. Im Sommer bietet er Yoga-am-Berg-Wanderungen, im Winter finden die Stunden in einem Holzhäuschen im Garten statt.

Viel Wissen im Gepäck

Wer mehr wissen möchte über heimische Kräuter, bucht eine Wanderung bei Ursula "Natursula" Höger. Mit viel Wissen im Gepäck erklimmt die forsch-herzliche Kräuterpädagogin Wiesen und, bei guter Wetterlage, Almen, während sie die Vorzüge von Spitzwegerich als Suppeneinlage erklärt, von Gänseblümchen und Löwenzahn im Salat und dass Brennnesseln durchblutungsfördernd wirken.

Gut möglich, dass einige davon in einem bayurvidischen Gericht landen. Zum Beispiel im Bayernklassiker schlechthin, Ente mit Blaukraut und Knödeln. Mit dem Unterschied, dass das Blaukraut in Kokosmilch gart und die Knödel mit Brennnesseln verfeinert werden. Ein Renner, versichert Horst, sei auch der mit Bergkräutern und Kardamom aromatisierte Leberkas. Beides Gerichte, mit denen man sogar skeptische Großväter überzeugen kann. (Eva Biringer, RONDO, 6.5.2022)