In Vietnam geboren, in den USA aufgewachsen, schwul: Identitätsfragen prägen das Werk des 33-jährigen Autors Ocean Vuong. Er ist eine Galionsfigur queerer Literatur.

Foto: Tom Hines

Sein Roman Auf Erden sind wir kurz grandios machte Ocean Vuong 2019 zum Shootingstar. Ein Nachfolgeroman lässt bisher auf sich warten. Stattdessen schickt der US-Autor vietnamesischer Herkunft nun seinen zweiten Gedichtband nach Nachthimmel mit Austrittswunden (im Original von 2016) in die Welt. Zeit ist eine Mutter lautet der Titel kryptisch. Er entstammt einer Versfolge über sexuelle Identität und deutet dort eine Selbsterkenntnis an: "Weißt du, wie viele Stunden ich damit verplempert habe, Heterojungs / beim Zocken zuzuschauen? / Genug. / Zeit ist eine Mutter."

Andererseits geht es in dem stark mit autobiografischen Motiven hantierenden Buch des 33-jährigen Vuong tatsächlich immer wieder um die Mutter im biologischen Sinn. Seine Mutter ist 2019 gestorben, ein halbes Jahr nachdem bei ihr Krebs diagnostiziert worden war. Der Band ist seither entstanden: "Was uns für immer bleibt, ist etwas, das wir verloren / Im Schnee: der trockene Umriss meiner Mutter."

Ihr ist der Band gewidmet. Öfter als bei ihrem vietnamesischen Namen Hồng nennt Vuong sie beim englischen, dessen wörtlicher Übersetzung: Rose. Während des Vietnamkriegs als Tochter eines weißen Soldaten und einer Vietnamesin geboren, wurde sie als "Verräterin" gehänselt. Als sie sechs war, ging Napalm auf ihre Schule nieder. Wenn das Ich, das Vuong sehr ähnelt, Omelette mit Fischsauce kocht, "wie du / es mir beigebracht hast", verbindet sich Trauer um die Mutter mit der asiatischen Identität.

Identitätsfragen

Komplexe Identitätsfragen stehen in den Texten Vuongs, der noch im Kleinkindalter in die USA kam, weit oben. "Wenn du den Ameisen folgst / führen sie dich zu / Steintafeln / einer älteren Wüste zurück / in der einst vergrabene / schwarze Knochen jetzt / Worte sind", heißt es in einem Text etwas pathetisch. Vuongs Ameisen führen ihn zu ihm selbst. Auf Erden sind wir kurz grandios handelte schon von den tragischen biografischen Nachwirkungen des Vietnamkriegs, zudem von ersten schwulen Gefühlen. Zeit ist eine Mutter bleibt in dieser Sphäre.

Die Themen Herkunft und Sexualität verbinden, was sonst kaum Gemeinsamkeiten kennt: Es gibt im Buch keine fixen Verslängen und mangels Reimen keine Reimschemata. Schade, dass die Gedichte hier nicht zweisprachig vorliegen.

So heterogen die Form, so wiedererkennbar also der Inhalt, auf dem eine Schwermut lastet: ob sich in einem Gedicht ein Onkel, der in einer Waffenfabrik gearbeitet hat, mit dem Gürtel umbringt oder in einem anderen Vater und Sohn "zum ersten Mal / seit Jahrzehnten" umarmen, weil sie bei einem Autounfall aneinandergepresst werden.

"Glückspilz"-Vorwurf

"Ich war mal ne Schwuchtel / jetzt bin ich ein Kästchen zum Ankreuzen" gehört zu den plakativeren Stellen im Themenkomplex Queerness, "doch ich will dich trotzdem / auf Knien / in den Mund nehmen" zu den expliziteren, "Ich mein es so, wenn ich sage, ich sei / meistens / männlich" zu den zögerlicheren. Ein Freund, der vor kurzem eine geschlechtsangleichende Operation erfahren hat, kann "nicht fassen, dass ich meine Titten los bin". Gleichzeitig macht Vuong sich über stupide Männlichkeitsbilder lustig: "Mein Sohn ist eine Maschine". Anderswo hegt er Mitleid: "Ich sah einen Jungen / in einem Nissan, / groß wie ein Monstersarg, / heulen".

Dass Vuong das Zeug zum Posterboy aktueller Identitätsdiskurse hat, sieht auch eine Partybekanntschaft so: "Du bist schon ein Glückspilz. Du bist schwul, und außerdem kannst du über den Krieg und so Zeug schreiben. Ich bin nur weiß." Vuongs Konter: "Weil jedes Kind weiß, dass gelber Schmerz, in amerikanische Buchstaben gepresst, zu Gold wird. / Unser von Midas berührtes Leid." Uneingedenk der ungerechten Vorhaltung: Die Rolle des Identitätssuchers geht für Vuong auf. Er füllt sie mit scharfen Eindrücken. (Michael Wurmitzer, 3.5.2022)