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Etwa elf bis 13 Prozent aller Studierenden leiden unter klinischer Prüfungsangst, bei Kindern und Jugendlichen sind es je nach Erhebung zwischen 22 und 50 Prozent.

Foto: Getty Images / Kobus Louw

Wenn ängstliche Jugendliche bei Johannes Lanzinger und seinem Team anrufen, stellt sich oft die Frage: Ist das noch normale Nervosität oder schon Prüfungsangst? "Das ist nicht einfach zu unterscheiden", sagt Lanzinger. Er ist klinischer Psychologe und Leiter von Phobius, dem Phobie-Zentrum Wien: "Die Grenze zwischen Nervosität und Angst ist immer individuell zu ziehen." Er hört dann genau hin, wie Betroffene eine Prüfungssituation schildern. "Haben sie eine Vermeidungsreaktion – also dass sie sich am Tag der Prüfung krank melden – oder andere starke Angstreaktionen wie Zittern, Schwitzen, Panikattacken, Herzrasen und Blackouts, dann kann man wahrscheinlich von Prüfungsangst im klinischen Sinn sprechen", sagt Lanzinger.

Wie viele davon betroffen sind, ist unklar. Die Zahlen variieren je nach Studie: "Unter Studierenden leiden elf bis 13 Prozent unter klinischer Prüfungsangst, bei Kindern und Jugendlichen spricht man von 22 bis 50 Prozent", sagt der Experte. Die Pandemie hat das weiter verstärkt. Die Beratungsorganisation Rat auf Draht verzeichnete im Vorjahr eine deutliche Zunahme an Kindern und Jugendlichen, die wegen schulischer und psychischer Probleme anrufen. Die Beratungen zu Prüfungsangst sind um 300 Prozent gestiegen. Für Johannes Lanzinger vom Phobie-Zentrum Wien ist das eine logische Folge: "Viel Ungewissheit und neue Modalitäten – durch die Pandemie hat sich die Situation für Schülerinnen und Schüler insgesamt verschlimmert."

Angst-Stress-Teufelskreis

Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen, aber wie fast alle Ängste sei auch die Prüfungsangst laut Lanzinger gut behandelbar. Entspannungstechniken helfen, den Stress besser in den Griff zu bekommen. Aber das Problem liegt in vielen Fällen tiefer: "Betroffene haben oft auch Leistungsdefizite, etwa weil sie ADHS oder eine Lese- und Rechtschreibschwäche haben", sagt Lanzinger. Die Behandlung müsse dann weit vor der tatsächlichen Prüfungssituation ansetzen. "Es geht um Strategien für Fragen wie: Wie kann ich mir Dinge besser merken, mit Prokrastination besser umgehen und konzentrierter lernen?"

Es sei für Betroffene auch wichtig, zu verstehen, was dabei im Körper passiert. "Es ist ein Teufelskreis aus Angst und Stress", erklärt der klinische Psychologe – und der entsteht, weil der Körper bei Angst in den Fight-or-Flight-Modus schaltet. In der Evolution half der Mechanismus dabei, dass Menschen vor Gefahren besser weglaufen oder kämpfen können. Bei Prüfungen ist der aber nicht sinnvoll: "Der frontale Kortex, der für viele der kognitiven Aufgaben zuständig ist, wird bei starker körperlicher Aktivierung eher gehemmt, das heißt, man ist kognitiv nicht so leistungsfähig, wenn man viel Stress oder Angst hat", sagt Lanzinger. Das zu verstehen sei wichtig für Betroffene, es nimmt Druck heraus: "Betroffene verstehen dann: ‚Es ist normal, dass man kognitive Reserven nicht so gut abrufen kann, wenn man Angst hat. Ich bin deshalb nicht dumm, ich bin nicht generell unfähig.‘"

Selbstwert als Ursache

Zudem müsste man unbewusste Überzeugungen hinterfragen: Ist man nur mit guten Noten wertvoll? "Es hat viel mit Selbstwert zu tun", stellt Lanzinger klar. Bei manchen sei der Selbstwert stark an Leistung geknüpft, etwa wenn Eltern einem nur dann Wert zugeschrieben haben, wenn man gute Leistung bringt: "Das erzeugt viel Druck."

Wichtig sei laut Lanzinger, "dass Betroffene wieder positive Erfahrungen sammeln" – vor allem jene, die durch Vermeidungsverhalten schon lange keine Prüfung mehr geschrieben haben. "Man kann mit Gedankenübungen starten und sich vorstellen: Wie wäre es, wenn ich jetzt eine Prüfung schreiben würde? Dann geht es darum, die Gefühle und die körperliche Stressaktivierung auszuhalten und erlernte Entspannungsübungen anzuwenden", rät der Experte. Es kann auch helfen, eine Prüfungssituation inklusive Publikum im Vorfeld nachzuspielen. Im Phobie-Zentrum Wien arbeiten Lanzinger und sein Team mit Virtual Reality: Mittels VR-Brillen sollen Betroffene eine Prüfungssituation nachempfinden können und sich so besser darauf vorbereiten.

Beginnen in der tatsächlichen Prüfungssituation, etwa während der Matura, dann trotzdem wieder die Hände zu zittern oder der Atem zu stocken, hilft eine kurze gedankliche Auszeit. Der Psychologe rät zu Entspannung und Druckabbau: "Den Prüfungsbogen zur Seite legen, die Augen schließen und tief in den Bauch atmen. Und sich klarmachen: Es gibt keine wirkliche Gefahr. Es ist natürlich nicht so toll, wenn man die Prüfung nicht besteht, aber es ist auch kein Weltuntergang." (Magdalena Pötsch, 3.5.2022)