Im Gastblog sprechen Viktoria Pammer-Schindler und Mia Bangerl mit dem Theologen Christian Wessely über digitale Interaktion.

Christian Wessely ist Professor für Fundamentaltheologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Als Fundamentaltheologe beschäftigt er sich mit der Frage, wie religiöses Denken rational, dialogfähig und zeitgemäß funktionieren kann – auch in einer Gegenwart, in der menschliche Existenz grundlegend von Digitalität und (digitalen) Medien geprägt ist. Welche Konsequenzen der Einsatz digitaler Technologien für die menschliche und spirituelle Existenz hat, wird dabei zu einer Grundfrage. Gemeinsam mit Daria Pezzoli-Olgiati (München) und Stefanie Knauss (Villanova) ist er Herausgeber des "Journal for Religion, Film and Media".

Sind Digitalität und die Vorstellung der Existenz Gottes vereinbar?

Die Auffassung von Spiritualität und Religiosität steht im Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Angesichts des hohen Grades an Digitalisierung menschlicher Lebensräume müsse jedoch hinterfragt werden, ob Digitalität und die grundsätzliche Vorstellung der Existenz Gottes überhaupt vereinbar seien, so Wessely. "Es besteht das Risiko, dass eine digitale Welt 'entgöttlicht' wird. Denn wir brechen, in dem wir radikal digitalisieren, alles auf diskrete Werte herunter". Die Idee Gottes ließe sich jedoch nicht eingrenzen oder in binäre Werte fassen – vielmehr würde dies einen Widerspruch in sich bedeuten, da der Begriff "Gott" eine Überschreitung des Begreif- und Vorstellbaren voraussetzt und beinhaltet.

Demnach ist für Wessely die Möglichkeit einer "Gotteserfahrung" auch in digitalen Räumen gegeben: "Eine Gotteserfahrung im Sinn einer Epiphanie ist auch für religiöse Menschen nichts Alltägliches. Das ist die Konfrontation mit etwas ganz anderem, das lebensverändernde Kraft hat. Aber diese Erlebnisse sind nicht auf den christlichen Hintergrund beschränkt, sie sind nicht einmal auf den religiösen Hintergrund beschränkt, sondern können auch angesichts einer ästhetischen Erfahrung auftreten, die radikal und erkenntnis- und wesensverändernd ist. Solche Gotteserfahrungen sind keine Dauererfahrungen. Das ist nichts, was man alltäglich oder öfters mal hat. Es ist nichts, was einem regelmäßig beim Sonntagsspaziergang durch den Wald widerfährt oder beim Besteigen eines Berges, sondern das sind einschneidende Erlebnisse, die einmalig sind oder sehr selten auftreten."

"Die Liturgie funktioniert nur mit wahrhaftiger Präsenz vor Ort", sagt der Diakon.
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Spirituelle Alltagserfahrungen im Sinne von Gottesnähe, etwa als wahrgenommener Einklang mit sich selbst oder der Natur, würden aber laut Wessely weniger Raum in digitalen Sphären finden. Dies ergibt sich für ihn daraus, dass Menschen sich als Teil der Natur und eines physischen Ganzen erfahren: "Normalerweise schlafen wir in Betten, stehen in der Früh auf, wir essen, wir trinken, wir machen das Gegenteil, wir lieben, wir lachen, wir trauern usw. Und deswegen sind der Sphäre, der all diese emotionalen Komponenten zugeordnet sind, auch primär diese kleinen Punkte der Spiritualität zuzuordnen."

Liturgie lebt von der Präsenz vor Ort

Die fehlende Möglichkeit synchroner, also zeitlich und örtlich gemeinsamer sozialer Interaktion während den Anfängen der Corona-Pandemie war auf alle Fälle für religiöse Zusammenkünfte und Feiern eine Herausforderung, etwa bei Gottesdiensten. Für Wessely, der auch als Diakon tätig ist, ist klar, dass Liturgie über Videostreaming, digitale Chats oder Onlinekonferenzen nicht im gleichen Ausmaß wie in physischer Präsenz funktionieren kann: "Die Liturgie funktioniert nur mit wahrhaftiger Präsenz vor Ort. Die Repräsentation durch ein Bild, durch eine Textzeile und durch eventuell ein akustisches Feedback kann Personalität nicht ersetzen". Wahrhaftige Liturgie würde, so Wessely, eine umfassende Synchronität aller Beteiligten erfordern – also nicht nur im physischen Sinne örtlicher und zeitlicher Präsenz, sondern auch geistige Synchronität der Teilnehmenden.

Nicht jedes Problem ist quantitativ lösbar

Um geistige Synchronität zu gewährleisten, sei Vertrauen notwendig, auch in nicht religiösen Räumen. Dieses Vertrauen zu geben, wäre besonders bei der digitalen Interaktion nicht immer einfach, da Gesprächspartner oftmals nur als Stimme oder Video auftreten würden. Die Überschreitung dieser Grenze erfordert jedoch laut Wessely mehr als nur technische Steigerungen: "Die derzeit dominierende Weltinterpretation ist eine quantitative im Sinne der Idee, dass jedes Problem, das wir jetzt noch haben, durch quantitatives Steigern bestehender Ansätze lösbar ist. Ich glaube aber, es ist ein qualitatives Problem. Es gibt unausweichliche Einschränkungen in der digitalen Kommunikation, nämlich dass Sie und ich immer reduziert dargestellt werden, durch vorgegebene Farbdarstellung, durch Grenzen der Pixelauflösung oder der Frequenzbandbreite im Audiobereich. Das macht einen qualitativen Unterschied im Vergleich zur persönlichen Interaktion, der prinzipbedingt nicht überwindbar ist."

Ein Beispiel seien die Möglichkeiten, immer mehr Daten zu speichern, so Wessely. Beispielsweise konnten Kamerafilme vor einigen Jahren immer nur wenige Bilder speichern, welche dadurch sorgfältig ausgewählt und gerne betrachtet wurden. Ein modernes Smartphone könne jedoch tausende Fotos speichern, was für Wessely dazu führt, dass einzelne Bilder zwar gespeichert, aber selten bis nie angesehen werden. "Ich denke, dass sich damit gerade bei dieser Idee der Sammlung von Fotos, und in weiterer Folge bei der Idee der Selbstrepräsentation in den sozialen Medien, massiv unser Problem mit der Vergänglichkeit äußert", meint Wessely. "In Wahrheit ist das aber eine religiöse Frage, und wir können uns nicht durch Technik über die Vergänglichkeit hinwegretten, und darüber, dass unser Leben grundsätzlich zu kurz ist, um die Welt zu erleben".

Das Schaffen möglichst vieler persönlicher (digitaler) Zeugnisse sieht Wessely als (scheiternden) Versuch, das eigene Selbst über die physische Existenz und den Tod hinaus zu repräsentieren. Religiöse Menschen könnten mit diesem Problem durch ihr Gottvertrauen anders umgehen als nichtreligiöse Menschen. Hier schließe sich auch wieder der Kreis zur Ausgangsfrage nach der digitalen Interaktion mit anderen Menschen: "Um derartige existenzielle Fragen bearbeiten zu können, ist die Unmittelbarkeit des anderen notwendig, der mir zusagt, in diesem Moment in seiner ganzen physischen Präsenz für mich da zu sein, mich ernst zu nehmen und mich anzunehmen." Nur als zweitbeste Möglichkeit, wenn es nicht anders ginge, solle man daher im Kontext der Liturgie und des Austausches über existenzielle Fragen die Option medialer Vermittlung und digitaler Kommunikation in Kauf nehmen. (Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl, 29.4.2022)