Kämpfer aus der "Volksrepublik" Donezk Mitte April auf einem Panzer bei Mariupol. Im ostukrainischen Donbass herrscht bereits seit 2014 Krieg.

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Acht Jahre sind vergangen, seitdem in den ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk zwei prorussische "Volksrepubliken" ausgerufen wurden. Der seitdem herrschende Krieg im Donbass gilt auch als Keimzelle des russischen Überfalls auf die gesamte Ukraine im Februar dieses Jahres. Immerhin hatte der Kreml nur wenige Tage davor die Anerkennung und Unterstützung der beiden "Volksrepubliken" proklamiert.

Eine effektive prorussische Identitätsbildung im Donbass, die die Akzeptanz der lokalen Bevölkerung für die russische Einflussnahme in der Region nachhaltig hätte festigen können, wurde nach 2014 aber nur auf mangelhafte Weise betrieben. Zu diesem Schluss jedenfalls kommt eine wissenschaftliche Langzeituntersuchung der Universität Cambridge. Jon Roozenbeek, der dort am Institut für Psychologie forscht, analysierte dazu – unterstützt durch einen Computeralgorithmus – 85.000 Print- und Onlineartikel aus 30 lokalen und regionalen Medien, allesamt erschienen in den Jahren 2014 bis 2017. Die Ergebnisse wurden nun von der Universität veröffentlicht.

Kein Wir-Gefühl

Kernsatz von Roozenbeeks Schlussfolgerungen: Die Versuche, eine prorussische Identitätsbildung medial zu befördern, seien inkohärent und wenig überzeugend gewesen. Neben journalistischem "Business as usual" aus Bereichen wie Sport oder Unterhaltung hätten sich immerhin 36 Prozent der Artikel der "Formung von Identität" durch Propaganda gewidmet. Allerdings habe man dabei zwar die politische Führung der Ukraine immer wieder als "faschistisch" dargestellt, dem aber kaum ein Narrativ zur Stärkung der eigenen Gruppenidentität gegenübergestellt. Mit anderen Worten: Bei der Schaffung eines äußeren Feindes war man erfolgreicher als beim Erzeugen eines positiven Wir-Gefühls.

Als Beispiel nennt Roozenbeek den Gebrauch des historischen Begriffs "Neurussland", den Kreml-Chef Wladimir Putin ab 2014 häufig benutzte, um die Zugehörigkeit des Donbass zu seinem Land zu suggerieren. Von den örtlichen Medien, so zeigen die Analysen aus Cambridge, sei die Bezeichnung jedoch kaum aufgenommen worden.

Rechtfertigung nach außen

Ein weiterer Faktor könnte die offenbar irrige Annahme sein, man dürfe von einer bereits real existierenden gemeinsamen prorussischen Haltung im Donbass ausgehen und müsse diese nur noch festigen. So habe es vor allem in der Region Luhansk zwar Artikel zu diversen "patriotischen" Kulturevents gegeben, doch auch dort sah man demnach die politisch gewollte Gruppenidentität als etwas bereits Bestehendes an – und nicht als etwas, das es erst noch zu etablieren gilt.

Kurzum: Die Propaganda habe es "nicht geschafft, in der Ostukraine eine überzeugende Alternative zur ukrainischen Nationalität aufzubauen", erklärt Roozenbeek. Dennoch warnt er davor, weitere Versuche in diese Richtung zu unterschätzen – auch was die Darstellung nach außen betrifft: Angebliche Unterstützung der Bevölkerung vor Ort könne auch außerhalb der Ukraine als Rechtfertigung für das russische Vorgehen im Land dienen. Roozenbeek fordert daher eine präventive Entlarvung der These, dass ideologische Projekte wie "Neurussland" in der Region tatsächlich tiefe Wurzeln hätten. (schub, 3.5.2022)