Im Gastblog stellt ein Lehrer die Matura in der jetzigen Form infrage.

Die Entscheidung des Bildungsministers Martin Polaschek (ÖVP), die mündliche Matura wieder verpflichtend einzusetzen, wurde von Schülerinnen und Schülern der AHS und BHS zurecht lautstark kritisiert. Prominente Gegenstimmen ließen nicht lange auf sich warten. Kulturpessimistisch angehaucht kritisierte Konrad Paul Liessmann, dass der jungen Generation Biss und "Disziplin" fehle, sie jede "Anstrengung" vermeide und sie lieber feiere, statt Schwierigkeiten überwinden zu wollen. Die Staatsekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) verklärte in einem Zib-Interview die Matura zu einer "großen Chance" und einem "besonderen Tag" für junge Menschen, um aller Welt zu zeigen, was sie alles gelernt hätten. Zudem sei es ein wichtiger "Schritt zurück in die Normalität".

Liessmann weint der Matura als einem "strengen und sinnvollen Ritual" nach, das in seinen Augen seine Strenge und Sinnhaftigkeit verloren habe. Es würde das Niveau fehlen. Allerdings lässt er offen, welches Niveau er meint und wer das Niveau festlegt.

Zum anderen wünscht sich Plakolm in die Vergangenheit zurück. Dass es sich dabei um eine Vergangenheit voller Stress und Angst für Schülerinnen und Schüler handelt, lässt sie unerwähnt. Genauso, dass die Matura herkunftsabhängige Bildungschancen zementiert statt aufhebt. Ihre proklamierte Chance ist ein Euphemismus sondergleichen.

Das Ende der Matura

Die wieder aufgeflammte Diskussion über die Notwendigkeit der Matura ist ein guter Zeitpunkt, ihre Sinnhaftigkeit einmal mehr infrage zu stellen und ihr Ende einzufordern!

Die Matura beruht in meinen Augen auf zwei Rechtfertigungsgründe: Zum einen dient sie der Zulassung für die Hochschulen. Zum anderen stellt sie das Abschlussritual der 12-jährigen Schullaufbahn dar. Ersterer ist in den letzten Jahren zunehmend in den Hintergrund getreten, sind doch Aufnahmeprüfungen und Eignungstests bei Studiengängen immer häufiger Usus.

Matura: ein längst überholtes Konzept?
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Der zweite ist ebenso fragwürdig. Mir erschließt sich die Sinnhaftigkeit dieser Abschlussprüfung nicht. Weder als Prüfung noch als Ritual. Prüfungen im Sinne eines Wiederkäuens zuvor auswendig Gelerntem ist nicht mein Verständnis von Wissensaneignung. Allein als Abschluss-Ritual wäre eine ganzjährige Projektarbeit, auch in Verbindung mit der Vorwissenschaftlichen Arbeit (VWA) eine deutlich sinnvollere Angelegenheit. So ist sie eine weitere Hürde und Disziplinierung. Ohnehin zeigen Schülerinnen und Schüler tagtäglich, was sie können. Und das zwölf Jahre lang! Schülerinnen und Schüler also mangelnde Disziplin oder Anstrengungsverweigerung vorzuwerfen grenzt an Arroganz.

Einzig die Versteifung unseres Bildungssystems auf Prüfungen und Überprüfungen der Prüfungen erklärt mir diesen (Über-)Prüfungsfetisch. Generell sollte meines Erachtens das Ziel jeden Unterrichts sein, möglichst viele Übungssituationen zu schaffen. Das würde folglich die Konditionierung für Noten zu lernen aushebeln und Motivation und Interesse an Neuem wieder in den Vordergrund rücken.

Vererbte Bildung

Ferner würden die ungleichen familiären Unterstützungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler ausgeglichen werden, die nach wie vor die größte, wenn auch unsichtbare Mitverantwortung am schulischen Erfolg tragen. So maturieren nur vier von zehn Kinder von Arbeiterinnen und Arbeitern und zwei von zehn beginnen ein Studium, wohingegen acht von zehn Kinder von Akademikerinnen und Akademikern eine Matura machen und ganze sieben von zehn studieren gehen.

Ziffernoten sagen mehr darüber aus, wie Schülerinnen und Schüler mit Spielregeln und Verhaltensnormen von Schule zurechtkommen als über das Leistungsniveau selbst. Somit treffen negative Noten insbesondere Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Schichten, weil sie viel öfters Schwierigkeiten mit dem sozialen Setting Schule haben.

Ferner zwingt die Matura in der Oberstufe – und hier vor allem im letzten Jahr – auf eine Fokussierung aller Ressourcen und Energien auf diese letzte Prüfung. Im Unterricht wird nur noch in Hinblick auf die Matura gelernt. Nicht-Maturafächer geraten selbst bei Interesse gezwungenermaßen ins Hintertreffen. Folglich ist das letzte Jahr ein Bulimielernen auf eine Prüfung hin, die ihr altes Versprechen nur noch zum Teil erfüllt. Ein Zurück-zur-Normalität war schon immer nur für ÖVP und Konservative wünschenswert, die vom herrschenden (Bildungs-)System profitieren.

Meine Vision ist hingegen ein Abschlusszeugnis der zwölften Klasse, das den Namen Matura trägt. Für mich ist und bleibt die Matura, um es mit Natascha Strobel auf den Punkt zu bringen, ein "Statussymbol einer reaktionär-bürgerlichen Klasse", um eine breite gesellschaftliche Chancengerechtigkeit einzuschränken. (Josef H., 5.5.2022)

Josef H. (32) ist seit drei Jahren Lehrer an einer BHS in Wien.

*Namen geändert (Name der Redaktion bekannt)

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