Er war kein lauter Mann. Zumeist sprach er leise und war schon deswegen nicht immer leicht zu verstehen. Seine auf Englisch verfassten Werke, denen man anfänglich das Ringen mit der Fremdsprache noch anmerkte, verzichteten auf rhetorischen Prunk und riskierten keine Unschärfe um einer knalligen Pointe willen. Er verschrieb sich der Sachlichkeit und einer präzisen Aufschlüsselung von begrifflichen Gehalten, die mitunter an Pedanterie grenzte.

Die Rede ist von Joseph Raz, dem israelischen Rechtsphilosophen. Man kann ihn in einem Atemzug mit dem Österreicher Hans Kelsen und dem Engländer Herbert Hart als einen der führenden Vertreter des Rechtspositivismus bezeichnen. Er ist am Montag mit 83 Jahren in London verstorben.

Recht mit moralischem Anspruch?

Für den größten Teil seines Lebens war Raz an der Oxford University beheimatet.

Rechtspositivisten, so heißt es, trennen das gesetzte Recht von der Moral. Während sowohl Kelsen als auch Hart diese Trennlinie vor allem zogen, um eine nüchterne und von Idealisierungen weitestgehend freie Betrachtung des Rechts zu fordern, setzte Raz einen etwas anderen Akzent. Aus seiner Sicht wird Recht gleichsam aus der Moral "herausgeschnitten". Die Rechtgeltung hat ihre Wurzel in der moralischen Urteilsenthaltung. Dahinter steht die Idee, dass die Isolation der Rechtgeltung im Verhältnis zu unseren individuellen moralischen Urteilen zu unser aller Bestem sein kann. Immerhin ermöglicht das Recht die Koordinierung des Verhaltens und gestattet es, moralisch erstrebenswerte Ziele besser zu erreichen, als wenn jeder dies für sich selbst versuchte. In einer Pandemie ist es besser, sich an allgemeine Regeln zu halten, als zu tun, was einem selbst richtig dünkt.

Ob das positive Recht die von ihm implizit beanspruchten Leistungen tatsächlich erbringt, ist eine von der Erhebung seines Geltungsanspruchs verschiedene Frage. Als Rechtspositivist war sich Raz darüber im Klaren, dass das Recht auch gilt, wenn wir es für misslungen erachten. Das individuelle moralische Urteil muss Platz machen für das Recht. Anders wäre es nicht möglich. Er trennte also – wie Kelsen und Hart – das Recht von der Moral, behielt aber im Auge, dass das Recht dennoch, um legitim sein zu können, einen moralisch relevanten Anspruch erheben muss.

Regel und Autorität

Simple Botschaften zu verbreiten war dem 1939 im Mandat Palästina geborenen Denker nicht in die Wiege gelegt. Er wollte es immer genau wissen und alles im besten Sinne gründlich durchdenken. Beides erklärt, warum er sich zu einem außergewöhnlich originellen Denker entwickelte. Zwar studierte er, nachdem er in Israel seinen ersten Abschluss gemacht hatte, bei Herbert Hart in Oxford und wurde dort zu seinem Schüler; aber wer in Raz' frühe Arbeiten blickt, erkennt sofort, dass er vieles anders anging als sein berühmter Lehrer. Nach Hart ist das Recht ein System von Regeln. Aber was ist denn eine Regel eigentlich? Wir sind spontan geneigt zu sagen, sie sei ein Grund, etwas zu tun. Wir haben Grund, ein Verbrechen zu bestrafen. Das ist die oberste Direktive des Strafrechts. Aber Raz sieht genauer hin. Eine Regel ordnet an, uns an dem Grund zu orientieren und ihn nicht gegen potenziell entgegenstehende Gründe abzuwägen. Eine Regel liegt erst dann vor, wenn die Beachtung anderer Gründe ausgeschlossen ist. Eine Regel konstituiert ein Abwägungsverbot.

Aus solchen kleinteiligen Überlegungen entwickelt Raz größere Gedankensysteme. Sein gesamtes Werk ist davon geprägt. So zieht er eine direkte Linie vom Begriff der Regel zum Begriff der Autorität. Eine Institution hat nur dann wahrhaft Autorität für und über uns, wenn es rational ist, unser eigenes Urteil über das richtige Verhalten dem Urteil der Entscheidenden unterzuordnen. Auch hier begegnet uns das Gebot, Alternativen nicht zu beachten, bloß betrifft es in diesem Fall unsere eigene Urteilskraft. Der am Begriff der Regel entwickelte Grundgedanke wird solcherart von Raz auf den Bereich des Politischen ausgedehnt.

Hauptwerk "Morality of Freedom"

Raz' Arbeiten über Autorität und die Funktion des Staates kulminierten schon 1986 in einem Buch, das wohl nicht zu Unrecht als sein Hauptwerk gilt. In The Morality of Freedom verbindet er seine Überlegungen zur Rechtsphilosophie mit dem Zweig der politischen Philosophie des Liberalismus, der die Aufgabe des Staates darin erblickt, uns ein gelungenes Leben zu ermöglichen. Dazu müssen wir in der Lage sein, uns autonom auf die Verfolgung und Perfektion des eigenen Lebensprojekts einzustellen.

Auf das autonome Entscheiden kommt es in diesem Kontext unter anderem deswegen an, weil unsere Kultur uns mit "inkommensurablen" Werten konfrontiert. Vieles, was uns wertvoll erscheint, ist weder besser noch schlechter, aber auch nicht gleich gut wie anderes. Es ist einfach unvergleichbar. Wenn man sich dafür entscheidet, sein Leben der Analyse serieller Musik zu widmen, lässt sich die Signifikanz der Erfahrung nicht in die Lebensfreude, die "Biker" auf ihrer Harley-Davidson genießen mögen, übersetzen, aber es ist die darin manifeste Unvergleichbarkeit der Werte, die es uns ermöglicht, uns als die Autorinnen und Autoren unseres eigenen Lebens zu verstehen. Wir haben die Wahl. Es gibt keinen anderen Maßstab als uns selbst.

Führender Denker in der Philosophie

Mit seinen Überlegungen zum gelungenen Leben und zur Freiheit stand Raz in vielerlei Hinsicht in der Tradition von Denkern wie John Stuart Mill und Isaiah Berlin. Dennoch war er kein bloßer Nachfolger, sondern ein vielschichtiger und sogar idiosynkratischer Denker. Manchmal steht man verwirrt vor der Vielfalt der Gedanken. Nicht immer ist alles klar, nicht immer hängt alles gut zusammen. Aber in seinen Überlegungen begegnet uns eine rare und verführerische gedankliche Kraft. In das Raz'sche Werk einzudringen ist daher ein ähnlich spannender Prozess wie das Einarbeiten in einen Klassiker der Philosophie.

Für den größten Teil seines Lebens war Raz an der Oxford University beheimatet, von der aus er Gastprofessuren wahrnahm, vor allem auch an den führenden Universitäten der Vereinigten Staaten. Sein Stern vermochte damit noch sichtbarer in einem globalen Maßstab zu leuchten.

Raz begann als Rechtsphilosoph und entwickelte sich bald zu einem führenden Denker auf dem gesamten Gebiet der praktischen Philosophie. Seine Schüler verehrten und fürchteten ihn. Als Lehrer war er unnachgiebig und streng. Lob war die seltene Ausnahme. Aber sein Gehabe war wohl nur die Außenseite jener intellektuellen Disziplin, die er als Maßstab an seine eigene Arbeit anlegte.

Joseph Raz ist nicht mehr, aber seine Ideen werden uns noch lange beschäftigen. (Alexander Somek, 3.5.2022)