Kaum war die Nachricht am späten Montagabend Ortszeit durchgesickert, strömten die ersten Demonstranten zum Supreme Court in Washington. Rund um das schneeweiße Säulengebäude wurden eilig Gitter aufgestellt, über dem Kapitolshügel kreisten um Mitternacht Polizeihubschrauber. "Mein Körper, meine Entscheidung!", skandierten einige der mehreren Hundert Menschen wütend. Andere scharten sich niedergeschlagen um brennende Kerzen.

Die drohende Aufhebung des seit knapp einem halben Jahrhundert geltenden Abtreibungsrechts durch das oberste Gericht hat das Zeug, zum beherrschenden Thema des Jahres in den USA zu werden, dessen gesellschaftliche und politische Verwerfungen kaum zu überschätzen sind. Durch eine extrem ungewöhnliche Indiskretion ist offenbar der 93-seitige Entwurf für die Ende Juni oder Anfang Juli erwartete Entscheidung in die Redaktion des Magazins Politico gelangt. Bleibt der Supreme Court bei dieser Position, dann können die Bundesstaaten künftig sämtliche Schwangerschaftsabbrüche – also selbst nach Inzest oder Vergewaltigung – verbieten. Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs John Roberts bestätigte den geleakten Entwurf als "authentisch". Gleichzeitig betonte er, es handle sich dabei noch nicht um eine finale Entscheidung.

Anders als in europäischen Ländern gibt es in den USA kein Bundesgesetz zur Abtreibung. Die Vorschriften fallen vielmehr in die Kompetenz der Bundesstaaten. Doch hatte das Verfassungsgericht in seinem bahnbrechenden Urteil Roe v. Wade im Jahr 1973 vorgegeben, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zum Beginn der Lebensfähigkeit des Fötus (der Zeitpunkt wird derzeit bei der 23. oder 24. Woche angesetzt) legal sind und nicht bestraft werden dürfen.

Auch Bernie Sanders äußerste sich zum bestimmenden Thema des Tages.

Gegen diese Entscheidung laufen rechtskonservative und christlich-fundamentale Gruppen seit Jahrzehnten Sturm – bislang vergeblich. Im Gegenteil wurde die liberale Rechtsprechung 1992 durch ein weiteres Urteil (Planned Parenthood v. Casey) bestätigt.

Mit der Zementierung der rechten Mehrheit am Verfassungsgericht durch Ex-Präsident Donald Trump aber haben sich die Gewichte entscheidend verschoben. "Wir denken, dass Roe und Casey zurückgewiesen werden müssen", heißt es laut Politico in der vom rechten Richter Samuel Alito verfassten Urteilsbegründung.

Interne Abstimmung

Rechtsexperten wie der Jus-Professor Neal Katyal, der die Obama-Regierung vor dem Obersten Gericht vertrat, halten das Dokument für echt. Es soll das Ergebnis einer internen Abstimmung widerspiegeln. Offenbar wird die Meinung von fünf der neun Richter geteilt. Nur die drei liberalen Richter wollen an dem bestehenden Recht festhalten. Der gemäßigt konservative Richter John Roberts plädiert laut Medienberichten in einer Minderheitsmeinung für die Straffreiheit der Abtreibung bis zur 15. Schwangerschaftswoche.

Auch am Dienstag wurde weiter protestiert.
Foto: EPA/SHAWN THEW

Beobachter halten es für extrem unwahrscheinlich, dass die fünf Anti-Abtreibungs-Richter ihre Meinung noch ändern. Vielmehr spiegle das Schriftstück deren Meinungen wider, die auch bei der Verhandlung einer Rechtsänderung im Bundesstaat Mississippi im Dezember deutlich geworden seien. Zwar unterstützt laut Umfragen eine Mehrheit der Amerikaner das geltende Abtreibungsrecht, doch Alito argumentiert ausdrücklich, der Supreme Court dürfe sich nicht von der öffentlichen Stimmung beeinflussen lassen. Die Abtreibung sei nicht durch die Verfassung geschützt. Deswegen sei es Sache der Bundesstaaten, sie zu reglementieren.

Drastische Verschärfungen

Sollte der Supreme Court in einigen Wochen das bisherige Recht tatsächlich kippen, dürften Abtreibungen in rund der Hälfte der US-Bundesstaaten vor allem im Süden und im Mittleren Westen verboten werden. Schon in den vergangenen Monaten haben einzelne Bundesstaaten wie Texas, Florida und Oklahoma ihre Gesetze drastisch verschärft und teilweise Schwangerschaftsabbrüche ab der sechsten Woche unter hohe Strafen gestellt. Mehr als ein Dutzend Staaten haben bereits Vorratsbeschlüsse gefasst, die entsprechende Gesetze unmittelbar nach der Aufhebung des Bundesrechts in Kraft setzen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Proteste am Montagabend.
Foto: AP / Anna Johnson

Entsprechend aufgebracht sind nun das liberale Amerika und die Demokraten. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, bezichtigte mehrere Verfassungsrichter der "Lüge", weil sie bei ihren Anhörungen für eine Beibehaltung des Abtreibungsrechts plädiert hatten.

Manchin macht nicht mit

Derweil fordern Linke wie der Senator Bernie Sanders und die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, dass der Kongress ein Gesetz zum Schutz des Rechts auf Abtreibung verabschiedet. Dazu aber wären im Senat 60 Stimmen erforderlich, wenn nicht die sogenannte Filibuster-Regelung gekippt wird. Auch US-Präsident Joe Biden hat bereits angekündigt, dass seine Regierung "bereit sein wird, wenn das Urteil (des Supreme Court, Anm.) ergeht", um die Abtreibungsrechte mit allen Mitteln zu verteidigen.

Ex-Präsident Barack Obama hat warnte vor einem Ende des Rechts auf Abtreibung : "Die Folgen dieser Entscheidung wären ein Schlag nicht nur für die Frauen, sondern für alle, die glauben, dass es in einer freien Gesellschaft Grenzen für den Eingriff des Staates in unser Privatleben gibt", erklärte der 60-Jährige am Dienstag in einer Mitteilung.

Sollte der Oberste US-Gerichtshof sein Grundsatzurteil zu Abtreibungen von 1973 kippen, zwinge dies die Menschen dazu, jedes verfassungsrechtlich anerkannte Interesse daran aufzugeben, was mit ihrem Körper geschehe, sobald sie schwanger seien. "Nach der Logik des Gerichts könnten die Parlamente der Bundesstaaten vorschreiben, dass Frauen jede Schwangerschaft bis zum Ende austragen müssen, unabhängig davon, wie früh sie ist und welche Umstände zu ihr geführt haben – selbst bei Vergewaltigung oder Inzest", so Obama.(Karl Doemens aus Washington, 4.5.2022)