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PRO: Überholtes Ritual

von Olivera Stajić

Es klingt eigentlich romantisch: Nach zwölf Jahren des Lernens ist aus dem Erstklässler ein junger Mensch herangewachsen, dessen Reife nun feierlich geprüft und bescheinigt wird. Der Schüler und die Schülerin bekommen die Gelegenheit, das mühsam Erlernte schriftlich wiederzugeben und sogar mündlich zu präsentieren. Dem Lehrerkollegium und anschließend den gerührten Eltern zu zeigen, dass man nun reif fürs Erwachsenenleben ist, klingt nach einem netten Übergangsritual.

Doch dieses Ritual ist längst überholt und obsolet. Das letzte Schuljahr ist geprägt vom Bulimielernen: Lehrerinnen beklagen die knappe Vorbereitungszeit, die Schüler und Schülerinnen den enormen Druck, die Zuspitzung auf diesen einen Tag ist für viele sehr belastend. Im Maturazeugnis steht dann womöglich eine Note, die gar nicht repräsentativ ist für die Leistungen der vergangenen Schuljahre. Dieses mühsam errungene Zeugnis ist obendrein längst nicht mehr die alleinige Voraussetzung für ein Studium. Immer mehr Universitäten und Fachhochschulen haben eigene Zugangsbeschränkungen.

Hinter dem heurigen Maturajahrgang liegen zwei Jahre extremer Belastung: Homeschooling, unzureichende Ausstattung für digitales Lernen, Isolation. Die psychische Anstrengung war auch ohne Maturastress enorm. Es gab keinen besseren Zeitpunkt, um die Matura abzuschaffen. Aber nächstes Jahr ist es auch nicht zu spät. (Olivera Stajic, 3.5.2022)

KONTRA: Wertvoller Übergang

von Lisa Nimmervoll

Noch bevor die immer etwas neurotisch anmutende kollektive Schnappatmung wegen der zum "Angstfach" stilisierten Mathematikmatura einsetzen konnte – mal war sie zu schwer, dann wieder zu leicht –, echauffieren sich einige Empörungskünstler, dass man diesen jährlichen "Aufwand" überhaupt treibt. Noch dazu für so "unnütze" Fächer wie Latein und Griechisch! Und ganz generell: Wozu brauchen wir die eigentlich, die Matura?

Nun: Bildung – zumal höhere, allgemeine wie berufsbildende – meint ja etwas ganz anderes, ist viel mehr als "nur" die Matura. Sie meint den großen Luxus und die zeitlich ohnehin begrenzte Freiheit, sich – wann, wenn nicht in der Jugend?! – zweckfrei, absichtslos, aus purer Freude und reinem Interesse etwas, das man eigentlich nicht "braucht", widmen zu können. Und auch zeigen zu können (und wollen), was man kann, das man mit zehn oder 14 noch nicht konnte. Dazu haben wir Schulen (auch). Dass sie Inseln der Neugier, der frei flottierenden Aufmerksamkeit, der Lust an Leistung sein können.

Die Matura markiert das Ende dieser Etappe. Sie ist vor allem ein "rite de passage", wie ihn alle Kulturen für unterschiedlichste Übergänge, etwa zwischen zwei Lebensphasen oder sozialen Gruppen, kennen. In diesem Sinne ist die Reifeprüfung – Matura kommt vom lateinischen "maturitas", was "Reife" bedeutet – ein symbolischer, wertvoller Übergangsritus, den man den Jugendlichen nicht nehmen sollte. (Lisa Nimmervoll, 3.5.2022)