Anstatt als Fest der Freude begehen die ukrainischen Muslime und Musliminnen das Ende des Fastenmonats Ramadan dieses Jahr in Trauer und Ungewissheit. Mit der großen nichtmuslimischen Mehrheit der Bevölkerung teilen sie nicht nur das Leben in einem grausamen Krieg, sondern auch ein prinzipielles Problem der Religionsgemeinschaften, allen voran der christlichen Orthodoxie: Mit Entsetzen schauen sie auf ihre Glaubensgenossen in Russland, die zumindest nach außen der Propaganda von Wladimir Putin und seinen Ideologen völlig verfallen sind.

Das bekannteste Gesicht der islamischen Gemeinschaft ist Scheich Said Ismagilow. Er ist Mufti der "Religionsverwaltung der Muslime der Ukraine" und hat sich zumindest formal gleich zu Kriegsbeginn den "Territorialen Verteidigungskräften" in Kiew angeschlossen und sich für seinen Facebook-Auftritt eine Uniform angelegt.

Muslime, darunter Soldaten, begehen in Kiew das Ende des Ramadan.
Foto: EPA / Stepan Franko

Der Tatar, der 1978 – also noch zu Sowjetzeiten – in Donezk geboren wurde, geht mit den islamischen Behörden in Russland hart ins Gericht: Sie sollten besser ihren Turban in den Mist werfen, denn sie hätten kein Recht, sich als religiöse Führer zu bezeichnen, wurde er von Middle East Eye zitiert. Damit meint er vor allem den Großmufti von Russland, Talgat Tajuddin, der wie andere muslimische Führer die russischen Muslime aufgefordert hat, sich dem Kampf gegen die Ukraine anzuschließen. Manche sprechen sogar von einem "Jihad".

"Kriminelle Macht"

Ismagilow wirft ihnen vor, "auf der Seite einer kriminellen Macht" zu stehen. In einem Statement scheint er auch Muslime von außerhalb der Ukraine ansprechen zu wollen: Es gebe eine "koranische Rechtfertigung" dafür, wenn Muslime in die Ukraine kämen, um dort die "russischen Invasoren" zu bekämpfen.

Das könnte vor allem bei Syrern auf Resonanz stoßen, die Russland das Überleben des syrischen Regimes von Bashar al-Assad ankreiden. Dass ein Teil von ihnen islamisch radikalisiert ist, ist ein anderes Problem. Das gilt teilweise auch für jene Tschetschenen, die als Gegner Russlands in andere Staaten geflohen sind. Aber auch in der Ukraine gibt es antirussische Tschetschenen und Dagestaner, die im Krieg kämpfen.

Muslime kämpfen in der Ukraine auf beiden Seiten.
Foto: EPA / Stepan Franko

Im internationalen öffentlichen Bewusstsein werden als "muslimische Kämpfer" jedoch vor allem die "Kadyrowzy" wahrgenommen, das vom tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow geführte Regiment der russischen Nationalgarde.

Ihre Propagandavideos aus dem Ukraine-Krieg, die ihnen den Spitznamen "Tiktok-Bataillone" eingebracht haben, richten nach Meinung Ismagilows nicht nur unter den Muslimen in Russland, sondern in der gesamten islamischen Welt großen Schaden an. Muslimische Soldaten als pro-Putinistische Helden, die mit dem Handy den Krieg filmen, in denen ihnen selbst nichts passiert. Vor allem in den arabischen Staaten gibt es allein schon wegen der antiamerikanischen Ressentiments viele Putin-Fans. Muslime, die auf der russischen Seite kämpfen, drohen den russischen Krieg gegen die Ukraine bei Uninformierten zu legitimieren.

Abweichende Schätzungen

Er wird ja generell als eine Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland wahrgenommen, beklagt Ismagilow laut dem "Religiösen Informationsdienst der Ukraine". Das treibt manchmal seltsame Blüten. Manche Araber im Nahen Osten meinen sogar, Putin werde, wenn er mit der Ukraine – und indirekt mit den USA – fertig sei, Gerechtigkeit für die Palästinenser schaffen: Sie ignorieren, dass sich Israel bis zu den jüngsten antisemitischen Ausfällen von Russlands Außenminister Sergei Lawrow weitgehend neutral verhalten hat.

Laut Ismagilow gibt es in der Ukraine etwa eine Million Muslime und Musliminnen. Die meisten Schätzungen setzen die Zahl niedriger an, auf etwa ein Prozent der ukrainischen Bevölkerung von gut 44 Millionen. Die größte Gruppe sind die Krimtataren, die 1944 Opfer der Deportationspolitik Stalins wurden. Viele von ihnen sind 2014 von der Halbinsel Krim in andere Teile der Ukraine geflohen, wo es alte tatarische Gemeinden gibt. Daneben gibt es zahlreiche andere kaukasische muslimische Volksgruppen.

Alteingesessene Religion

Der Islam ist in der Ukraine eine alteingesessene Religion. Die ersten schriftlichen Zeugnisse, die eine dauerhafte Präsenz belegen, stammen aus dem 11. Jahrhundert. Im 14. Jahrhundert etablierte sich der Islam auf der Krim als Staatsreligion. Die Ukraine brachte im 19. Jahrhundert auch einen Vordenker für einen aufgeklärten modernen Islam hervor, Ismail Hasprinskyj. Und im ehemals habsburgischen Lemberg ist ein islamisches Zentrum nach Muhammad Asad benannt, dem dort 1900 als österreichischer Jude geborenen Leopold Weiss. (Gudrun Harrer, 4.5.2022)