Nicht ohne ihre Maschine: die Journalistin und Feministin Alice Schwarzer im Film von Sabine Derflinger.

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Archivaufnahmen, Gespräche, Rückschauen, Reflexionen im Film "Alice Schwarzer".

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Alice Schwarzer und Ehefrau Bettina Flitner.

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Alice Schwarzer bleibt dabei: Der offene Brief an den deutschen Kanzler Olaf Scholz war eine gute, richtige und wichtige Sache. "Endlich wird über diese für uns alle lebenswichtige Frage diskutiert", schreibt die Journalistin auf Anfrage. Diskutiert wird allerdings. Seit Tagen wird eine erhitzte Debatte geführt, ob es legitim sei, vor der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zu warnen. Für die Premiere des Films "Alice Schwarzer" von Sabine Derflinger ist Schwarzer dieser Tage in Wien. Dem STANDARD antwortete sie per Mail.

STANDARD: Man wirft den Unterzeichnenden "Gutgläubigkeit" und "Sofa-Pazifismus" vor. Was sagen Sie dazu?

Schwarzer: Sofa-Pazifismus? Im Gegenteil! Wir 28 sind hochrealistisch und genau darum hochalarmiert. Unser Anliegen ist: erstens ein schnellstmöglicher Stopp des Krieges in der Ukraine, der täglich das Land mehr verwüstet und immer mehr Vergewaltigungsopfer und Tote fordert. Und zweitens die absolute Vermeidung der Überschreitung der roten Linie zu einem Atomkrieg. Innerhalb von nur vier Tagen ist unser Brief auf change.org von über 200.000 Menschen unterzeichnet worden. Das zeigt die Stimmung im Land. Denn in der Tat: 45 Prozent der Deutschen sind für weitere Waffenlieferungen – 45 Prozent aber sind dagegen. Doch bisher reflektierte die veröffentlichte Meinung nicht die öffentliche Meinung. Das hat sich durch unseren offenen Brief geändert. Endlich wird über diese für uns alle lebenswichtige Frage diskutiert.

STANDARD: Was würde die Journalistin Alice Schwarzer über den Film "Alice Schwarzer" schreiben?

Schwarzer: Ich würde darüber informieren, wie lange die Filmemacherin A.S. begleitet hat und an welche Orte sowie wie viele Dokumente sie aus wie vielen Jahren gesichtet hat. Darüber hinaus: kein Wort. Zu befangen.

STANDARD: Welche Absprachen haben Sie vor dem Dreh mit Sabine Derflinger getroffen? Welche Mitspracherechte haben Sie sich eingeräumt?

Schwarzer: Dass ich die Rohfassung des Films sehe und eventuelle ernsthafte Einwände ernst genommen würden. Es gab keine Einwände.

STANDARD: Wie haben Sie die Rückkehr an die Plätze der Vergangenheit empfunden – die Arbeit zum Film und zu den Autobiografien? Und wohin sind Sie weniger gern gegangen?

Schwarzer: Vergnüglich, aber zum Teil auch schmerzlich. Vor allem in Bezug auf Berlin in den 70er-Jahren sowie "Emma" Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre.

STANDARD: An welche Plätze bzw. in welche Zeit sind Sie im Erinnerungsprozess gern zurückgegangen?

Schwarzer: In den Wald am Rand von Wuppertal, wo ich als Kind aufgewachsen bin. Und nach Paris.

STANDARD: Wie ging es Ihnen mit dem Prozess des Erinnerns? So manches, das hochkommt, kann beglückend, aber auch schwer sein.

Schwarzer: Ja. Beides war der Fall.

STANDARD: Wahrscheinlich gab es Fotos, Videos, Ausschnitte, die Sie selbst jahrelang nicht gesehen hatten. Wie haben Sie dieses Sichten erlebt?

Schwarzer: Ich musste lachen über die Radikalität mancher früher Auftritte. Und ich war erschrocken über meine frühere Zerbrechlichkeit.

STANDARD: Gab es innerhalb dieser Selbstreflexionen Dinge, von denen Sie heute sagen: Darauf bin ich besonders stolz, das habe ich toll gemacht – und welche wären das?

Schwarzer: Besonders stolz bin ich bis heute darauf, dass ich so vielen Frauen, aber auch so manchem Mann Mut gemacht habe.

STANDARD: Und solche Dinge, von denen Sie sagen, das würden Sie heute ganz anders machen – und wieder: wenn ja, welche?

Schwarzer: Ich würde mich deutlicher wehren gegen Angriffe, vor allem aus den eigenen Reihen. Die waren ja oft persönlich oder politisch motiviert, manchmal beides.

STANDARD: Sabine Derflinger sagt: "Es gab eine ganz große Entdeckung für mich an ihr, nämlich dass sie immer alles zu Ende denkt, egal ob daraus Angriffsflächen entstehen." Bedenken Sie die Angriffsflächen mit?

Schwarzer: Eigentlich nie. Ich antizipiere fast nie die Reaktionen, weder bei Büchern noch bei Aktionen. Ich überlege nur: Ist es richtig, das zu tun? Und wichtig? Und bei zweimaligem Ja handle ich.

STANDARD: Stichwort zu Ende denken: Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass Feminismus in der Ideologiefalle zu stecken scheint – oder tut er das etwa gar nicht, sondern wir erliegen alle einem antifeministisch verbreiteten Irrtum?

Schwarzer: Feminismus? Das ist eine ungeschützte Marke. Darunter wird heute vieles verstanden, manchmal sogar Gegenteiliges. Darüber müssten wir also genauer reden. Aber das wäre ein längeres Interview.

STANDARD: Worin sehen Sie sich in den nächsten Jahren in der feministischen Debatte besonders gefordert? Was sind die Themen, an denen wir "dranbleiben" müssen?

Schwarzer: Ein weites Feld. Das Problem der Sexualgewalt wird zentral bleiben. Das der strukturellen Benachteiligung in allen beruflichen und gesellschaftlichen Bereichen sowieso. Und nun kommt noch ein neues Problem hinzu: Das der Identität.

STANDARD: Wie geht es "Emma"? Alle Inhalte sind, soweit ich sehe, frei zugänglich. Soll das so bleiben?

Schwarzer: Danke, "Emma" geht es gut. Sogar sehr gut. Wir werden zwar seit Jahrzehnten "gestrig" geredet, sind aber weiterhin an der Spitze der Bewegung, stoßen neue Debatten an, schreiben jenseits des Mainstreams, auch des feministischen, und so manches Mal auch dagegen. Kurzum: Wir sind weiterhin unabhängig und können uns ein freies Denken erlauben. Die Voraussetzung dafür ist unsere ökonomische Unabhängigkeit. Auch die ist gewährleistet dank des Verkaufs des Heftes, vor allem des Abos. Darum kann es bei der kostenlosen Zugänglichkeit zu allen Heften seit 1977 im Emma-Lesesaal bleiben. Das ist keine verlegerische, sondern eine politische Entscheidung. Nur die letzten zwei Jahre müssen gekauft werden. Denn irgendwie müssen wir ja unsere Miete, die Gehälter, das Papier, den Druck et cetera bezahlen.

STANDARD: Im Dezember feiern Sie Ihren achtzigsten Geburtstag. Was wünschen Sie sich?

Schwarzer: Dass es so weitergeht! Aber mit ein bisschen weniger Ärger, wenn es recht ist. (Doris Priesching, 5.5.2022)