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Michelle O'Neill von Sinn Féin ist derzeit stellvertretende Erste Ministerin der nordirischen Regierung.

Foto: REUTERS/Clodagh Kilcoyne

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Die skandalgeplagte protestantische und unionistische DUP bemüht sich um Stimmen.

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Nach der Wahl ist vor der Wahl. Nirgendwo gilt dieser Merksatz für demokratische Politiker eindeutiger als in Nordirland, wo an diesem Donnerstag das Regionalparlament neu zusammengesetzt wird. Seit der Spaltung der Grünen Insel in die Republik im Süden und den britischen Nordosten vor 101 Jahren stehen die Politiker dort vor schier unüberbrückbaren Gegensätzen: die von Alters her machtgewohnte protestantische Mehrheit und die lange unterdrückte katholische Minderheit. Königstreue, nach London schauende Unionisten und irische, nach Dublin orientierte Republikaner. Die aufs offene Meer blickende Industriestadt Belfast und der tiefkonservative ländliche Raum.

Das Karfreitagsabkommen beendete 1998 nicht nur einen blutigen, drei Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg. Es spannte auch die Vertreter der unterschiedlichen Gruppierungen in eine unbequeme Konkordanzregierung nach Schweizer Muster zusammen. Die Aussicht auf saftige Subventionen aus London, auf wohlwollende Hilfe durch EU und die USA genügte als Kitt, um einstige Erzfeinde wie den fundamentalistischen Hassprediger Ian Paisley von der DUP und Martin McGuinness, früherer Chefkader der Terrortruppe IRA, von Sinn Féin (SF) am Belfaster Kabinettstisch zusammenzubringen.

Bedrohter Kompromiss

Die Veteranen sind tot, die Nachfolgerinnen von minderem Format. Ein knappes Vierteljahrhundert nach seinem mühsamen Zustandekommen wirkt der politische Kompromiss so bedroht wie nie zuvor. Dafür gibt es drei Hauptursachen. Die Mehrheit wird, erstens, zur Minderheit, jedenfalls politisch: Während viele Unionisten von der skandalgeplagten DUP abwandern, machen die Nationalisten ihr Kreuz überwiegend bei SF. Den Umfragen zufolge werden die beiden Großen – 2017 fast gleichauf – Stimmen einbüßen. Weil aber der DUP größere Verluste ins Haus stehen, wird SF erstmals Platz eins und damit den Posten der Ersten Ministerin beanspruchen können.

Die Kandidatin Michelle O’Neill diente schon bisher als Co-Regierungschefin, nur gemeinsam ist das Duo handlungsfähig. Aber die Symbolik zählt. Sie dürfte, zweitens, zwei Trends verstärken: Die DUP und ihre angstbeladene Wählerschaft ziehen sich noch stärker in die Wagenburg unionistischer Gewissheiten zurück. Gleichzeitig werden aufseiten der triumphal auftretenden Republikaner die Rufe nach einer Volksabstimmung über die Wiedervereinigung der geteilten Insel lauter.

Brexit-Schatten über allem

Über allem liegt, drittens, der schwere Brexit-Schatten. Eigentlich leben die Nordiren in der besten aller Welten: Um die Landgrenze offen zu halten, gehören sie weiterhin teilweise dem EU-Binnenmarkt an. Um dessen Integrität zu gewährleisten, einigten sich Brüssel und London auf begrenzte Zoll- und Einfuhrkontrollen zwischen Nordirland und der britischen Hauptinsel. Das führte vor Jahresfrist zu Engpässen bei bestimmten Medikamenten und Lebensmitteln, inzwischen hat sich die Lage längst normalisiert. Aber die Unionisten beharren auf einer Änderung des sogenannten Nordirland-Protokolls und werden darin von Boris Johnsons Regierung bestärkt.

Der Premierminister und seine Konservativen haben am Donnerstag auch Wahlen auf der Hauptinsel zu bestehen, dürften in England, Wales und Schottland Einbußen erleiden. Mag sein, dass es dann zum längst erwarteten Aufstand gegen den polizeilich abgestraften Lockdown-Sünder kommt. Gewissheit hingegen besteht in einer Sache: In die Stabilität, ja den Frieden Nordirlands müssen die Regierenden in London ebenso wie in Dublin sowie die Brüsseler EU-Kommission in den kommenden Monaten erheblich mehr politisches und finanzielles Kapital investieren als zuletzt. (Sebastian Borger, 5.5.2022)