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Der Zweite Weltkrieg oder die Jugoslawienkriege sind Teil der Biografien der Ältesten.

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Panzer rollen über die ukrainischen Grenzen, das Kriegsrecht wird ausgerufen, Männer bleiben zurück, während Frauen und Kinder fliehen: Bei jüngeren Generationen löst das Schock und Bestürzung aus. Doch Menschen, die selbst in Kriegszeiten geboren und aufgewachsen sind, trifft der Krieg in der Ukraine auf andere Weise. Fernsehbeiträge und Fotos rühren an verdrängten und nicht verarbeiteten Erinnerungen – und können in schweren Fällen sogar retraumatisierend wirken. Das sagt Elmar Kainz, Vorstand der Neurologisch-Psychiatrischen Gerontologie am Kepler-Uniklinikum Linz.

Auf seiner Station werden ältere Menschen mit Nervenerkrankungen wie Demenz behandelt. Viele von ihnen haben den Zweiten Weltkrieg oder die Jugoslawienkriege durchlebt. "Im Moment ist leider eine sehr starke Auswirkung festzustellen", sagt Kainz. "Da gibt es doch viele, die schwere Traumata erfahren haben, und diese Bilder reißen so ein Trauma wieder auf."

Demenz sei nicht nur das Vergessen, sondern auch das unfreiwillige Erinnern an Dinge, die man verdrängt habe. "In Wahrheit erinnern wir uns an alles", sagt der Mediziner. "Aber unser Gehirn erbringt eine große Leistung, um für uns Unwichtiges auszublenden. Und dieses aktive Ausblenden kann in der Demenz wegfallen." Betroffene fühlen sich dann in akute Gefahren- oder Stresssituationen aus ihrer Vergangenheit zurückversetzt. "Wenn dann noch die Bilder im Fernsehen dazukommen, kann das bei den Leuten große Panik und Verzweiflung auslösen", sagt Kainz. "Dann kommt es schon einmal vor, dass sich ein Patient unter dem Bett versteckt."

Kindheit in der Besatzungszone

Doch auch ältere Menschen, die keine neurologischen Erkrankungen haben, beschäftigt der Krieg in der Ukraine. Im Wiener Caritas-Pflegeheim St. Teresa wird Platz für das gemeinsame Erinnern geschaffen. "Als der Krieg begonnen hat, war das innerhalb kürzester Zeit Thema", sagt Michael Huber, Leiter des Hauses. "Vor allem in den Bewohnerkreisen, die sich noch gut unterhalten können, die beieinandersitzen, die einen Stammtisch haben. Da sind dann unsere Mitarbeiter gefragt – überwiegend im Zuhören."

Dieser Krieg, sagt Huber, treffe die Bewohnerinnen und Bewohner anders als andere Konflikte. Das liege nicht nur an der gefühlten und räumlichen Nähe zur Ukraine, sondern auch daran, dass Russland Kriegspartei sei. Auch wenn die heutige Situation eine gänzlich andere ist – Russland als Aggressor statt Befreier –, alarmieren die sprachlichen Parallelen in der Berichterstattung frühere Kriegskinder. Viele der in St. Teresa lebenden Menschen seien in der sowjetischen Besatzungszone aufgewachsen, so Huber. "Wir haben Bewohner, die direkt betroffen waren, als damals 'der Russe' gekommen ist."

Viele der Betroffenen haben Zeit in Kellerverstecken verbracht, Kampfhandlungen mitansehen müssen oder sexuelle Übergriffe mitbekommen. "Es sind diese ganz konkreten Erinnerungen, an denen sie uns teilhaben lassen", sagt Huber. "Die haben in ihnen immer schon geschlummert. Und dann gibt es Ereignisse, die diese Erinnerungen wieder wachrufen. Das ist hier ganz klar passiert."

Was Angehörige tun können

Neben den eigenen Erinnerungen beschäftigt viele Menschen auch die Furcht, dass der Krieg Österreich erreichen könnte. Viele sorgen sich um die eigenen Kinder und Enkel, erzählt Huber. Hat ein Familienmitglied ähnliche Ängste, empfehlen sowohl Kainz als auch Huber, beruhigend einzuwirken. "Ich bin da, es geht mir gut, ich bin in keinster Weise gefährdet", fasst Huber als Formel zusammen.

Wenn – in schweren Fällen – die Sorge in anhaltende Angst oder Panik übergeht, empfiehlt Psychiater Kainz, den Auslöser zu entfernen: "Den Fernseher ausschalten, wenn der im Zimmer steht. Das ist die schnellste und einfachste Möglichkeit, eine Verbesserung zu bringen." Bleibt das Problem über längere Zeit bestehen, rät er, einen psychiatrischen Facharzt aufzusuchen.

Das Wichtigste bleibt jedoch das Zuhören. "Es ist sehr, sehr wichtig, die Menschen in dieser Phase zu begleiten, gerade als Angehöriger", sagt Huber. Besonders wertvoll ist auch der Austausch mit Menschen derselben Generation, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. "Würde einer dieser alten Menschen, die den Krieg erlebt haben, an den Hebeln der Macht sitzen, dann würde es diesen Krieg nicht geben", glaubt Huber. (Ricarda Opis, 8.5.2022)