Schauspielerinnen und Schauspieler bei den Proben.

Foto: Joachim Angerer

Nach Wochen der Ruhe kam der Luftangriff letzten Donnerstag, während des Besuches von UN-Chef António Guterres, völlig unerwartet. Nur 3,5 Kilometer vom Kiewer Stadtzentrum entfernt schlugen mehrere Raketen ein. Eine Fabrik wurde zerstört, ein Wohngebäude. Eine Journalistin von Radio Liberty, die dort lebte, starb.

Der Angriff zeigt: Der Krieg ist immer noch nahe in Kiew, auch wenn die russischen Belagerer in der Zwischenzeit abgezogen sind. Nach wie vor heulen die Sirenen, nach wie vor gibt es immer wieder Luftalarm. Bislang ist die Innenstadt unzerstört. Die prachtvollen Gebäude, Theater und Museen sind intakt. Doch die Furcht vor Raketenangriffen ist immer da. Viele der Denkmäler in der Stadt sind mit Sandsäcken geschützt – im Ernstfall würde das wohl nur wenig helfen.

In der Stadtverwaltung denkt man bereits über einen möglichen Wiederaufbau nach, hat mit der Vermessung und Digitalisierung der historisch wertvollen Gebäude begonnen. "Wir können 3D-Modelle der Bauten erstellen, unter Berücksichtigung jedes Zentimeters", sagt Viktor Nikoryak vom Amt für Kulturgutschutz. "Im Falle eines Raketenbeschusses könnten wir die Gebäude dann nach diesem Modell neu errichten."

Verpacktes Kloster

Seit Kriegsbeginn sind die Museen, die Theater in Kiew geschlossen. Auch das Museum im St. Michaelskloster, dem Sitz der orthodoxen Kirche in der Ukraine. Kulturell ist das Kloster von unschätzbarem Wert. Gäbe es den Krieg nicht, wäre es jetzt, im Frühjahr, ein Touristenmagnet.

Olga, die Museumswärterin, sperrt für einen STANDARD-Lokalaugenschein auf, zeigt uns, wie man die Vitrinen abgedeckt hat, zum Schutz vor herabfallenden Trümmern. Alle Exponate hier seien nicht ersetzbar, sagt Olga.

Mit Sandsäcken und Abdeckplanen versucht man zu schützen, was bei einem direkten Treffer wohl verloren wäre: ein Kloster in Kiew.
Foto: Joachim Angerer

Die Gemälde, die Fliesen aus der Sankt-Michaels-Kathedrale, die Bücher aus dem 11. Jahrhundert. Im Nachbarraum lagern wertvolle Fresken des Klosters, verpackt in Folie und Glaswolle. Sollte es zu einem Angriff kommen – hoffen sie im Museum auf das Beste. Die Mauern des Gebäudes sind immerhin 80 Zentimeter dick. Die könnten einiges aushalten, sagt Olga. Neben all der Angst gibt es in Kiew auch erste, vorsichtige Schritte in Richtung Normalität. Nach und nach öffnen Cafés und Restaurants, in geschützten Kellern gab es erste Theateraufführungen.

Und auch am renommierten Lesya Ukrainka National Academic Theatre, gegründet 1926, proben die Schauspieler wieder. In ihrem Theaterstück geht es um eine einsame Insel, fern vom Festland, niemand kann weg. Ein Kammerspiel, passend zur Situation im Land. Das Leben während der Belagerung, die erzwungene Pause am Theater, es sei furchtbar gewesen, sagt Andriy Ryabin, der Regisseur.

"Während des Krieges ist es sehr wichtig zu arbeiten. Anfangs haben wir nicht verstanden, was passiert. Wir haben nur zwölf Stunden lang die Nachrichten gelesen. Das war beängstigend. Da kann man verrückt werden. Sobald wir wieder die Möglichkeit hatten zu arbeiten, rannten alle ins Theater."

Theater mit Fluchtweg

Im großen Saal des Theaters darf noch nicht gespielt werden. Zu groß wäre das Risiko für das Publikum. "Der Saal ist für 700 bis 750 Zuschauer ausgelegt. Bei Luftalarm gibt es keine Möglichkeit, die Zuschauer schnell und sicher herauszubringen. Wir können hier zwar proben, das ist erlaubt, aber vor Publikum spielen dürfen wir hier nicht." Doch im kleinen Nebensaal, mit nur wenigen Plätzen, wird es bald die ersten Aufführungen geben.

Denn der Saal hat einen direkten Fluchtweg zur nächsten Metro-Station. Bei einem Luftangriff wären die Besucher im U-Bahn-Tunnel sicher. "Wir sind das einzige der großen Theater, das spielen darf. Weil es die Ausgänge zur U-Bahn gibt. Innerhalb einer Minute, maximal in anderthalb Minuten wären alle Zuschauer in Sicherheit."

Auch wenn das Kulturleben in Kiew langsam wieder erwacht, die Angst bleibt. Denn die russische Armee hat Luftangriffe auf "Entscheidungszentren" angedroht. Und von diesen gibt es viele in der ukrainischen Hauptstadt, etwa den Präsidentenpalast, Ministerien und Behörden, deren goldene Kuppeln in diesen Frühjahrstagen glänzen. (Joachim Angerer, 5.5.2022)