Olga steht in der Küche. Sie schneidet ein Stück von dem glasierten und mit bunten Streuseln verzierten Kuchen. Ihre Zweijährige zieht an ihrem Shirt und brabbelt Ukrainisch. Im Nebenzimmer hört man Kinderlieder. Sie ertönen aus dem Smartphone, das Oma Larissa ihrer fünfjährigen Enkelin vor die Nase hält. "Ukrainischer Kulitsch", sagt Olga und setzt sich zum Esstisch. "Diesen Kuchen gibt es nur zu Ostern." Auf dem Tisch steht eine Vase mit Rosen, im Fenster hängt eine blau-gelbe Flagge. Olgas Töchter schleppen die Katzen durchs Zimmer, streiten um Spielzeug, springen auf Mamas Schoß. Olga wirkt trotz des Trubels entspannt. Sie erzählt von ihrem Leben in Dnipro, von ihrer Arbeit als Chirurgin, dem Alltag mit den Kindern. Plötzlich beginnt sie zu weinen. "Ich vermisse meinen Mann."

Seit vier Wochen lebt Olga gemeinsam mit ihren drei Töchtern, ihrer Mutter und den beiden Katzen in einem kleinen Haus in Leobersdorf, wo die Familie nach ihrer Flucht aus der Ukraine Unterschlupf gefunden hat. Ihr Mann ist wie viele Männer im wehrfähigen Alter in der Ukraine geblieben.

Laut Innenministerium sind bisher rund 308.000 Menschen aus der Ukraine nach Österreich geflüchtet. Die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Sie waren oft tagelang auf der Flucht, sind traumatisiert. Erst langsam kommt die Gewissheit: Ihr früheres Leben in der Ukraine ist vorbei, sie müssen sich hier ein neues aufbauen. Es fehlt den meisten an Geld, an Freunden, statt im Berufsleben zu stehen, sind sie nun abhängig von Unterstützung. Sie fangen mit ihren Kindern noch einmal bei null an.

Wir haben mit vier Müttern gesprochen, die sich bemühen, ihre Ängste zu verdrängen, um für ihre Kinder weiterhin Sicherheit und Stärke zu vermitteln. Wie baut man sich in Österreich ein Leben auf, obwohl man wieder zurück in die eigene Heimat möchte?

"Diese Frauen brauchen nicht nur Hilfe bei diversen bürokratischen Abwicklungen oder bei der Unterkunftssuche", sagt Natalia Gricovkanics, Gründerin von Domivka, einer Hilfsorganisation für alleinreisende und alleinerziehende ukrainische Mütter in Wien, "sie brauchen ein Netzwerk, andere Mütter gegen die Einsamkeit und für hilfreiche Tipps." Sie kommt ebenfalls aus der Ukraine und vermittelt seit Kriegsbeginn private Unterkünfte für Mütter und Kinder.

Haben die Familien eine Bleibe gefunden, kommt bald die Frage auf, wie die Mütter allein eine eigene Wohnung finanzieren können. Mit dem Erhalt der blauen Karte bekommen Vertriebene in Österreich Zugang zu Arbeitsmarkt, Krankenversicherung und Bildung. Rund 8000 geflüchtete Kinder aus der Ukraine drücken in Österreich bereits die Schulbank. Die erste Zeit nach der Ankunft in Österreich ist so viel zu organisieren, dass den Frauen zunächst kaum Zeit zur Reflexion bleibt. "Vor dem Moment habe ich fast Angst", sagt Olga.


"Wir haben alles verloren"

Taisiia (36), Ingenieurin aus Sjewjerodonezk

Taisiia lebte mit ihrer Familie in der Region Luhansk in der Ostukraine. Am 17. März 2022 ist sie mit ihrem Sohn Tymur (13) nach Wien geflüchtet.
Foto: www.corn.at / Heribert Corn

"In der Ukraine hatten wir ein ruhiges und glückliches Leben. Mein Mann und ich arbeiteten in der Stadt, unser Sohn besuchte das Gymnasium. An den Wochenenden fuhren wir oft aufs Land in unser kleines Ferienhaus. Es gab einen schönen Garten, ich habe Gemüse und Blumen angepflanzt. Wir hatten Verwandte und Freunde, die vorbeikamen, es war sehr idyllisch. Aber all diese Dinge sind nur mehr eine Erinnerung: Unser kleines Haus und unsere Wohnung in Sjewjerodonezk wurde zerbombt. Wir haben alles verloren.

Es war gar nicht einfach, die Stadt zu verlassen. Bei unserer Evakuierung mit einem Rettungswagen wurden mein Sohn und ich von russischen Soldaten beschossen. Ein Wunder, dass wir noch leben. Nach unserer viertägigen Flucht sind wir völlig erschöpft und durchgefroren in Wien angekommen. Diese erste Nacht in einem sauberen, warmen Bett – in Sicherheit – werde ich nie vergessen. Das Leben hier in Österreich ist eine große Herausforderung. Ich bin mit genau 60 Euro in der Tasche nach Österreich gekommen. Englisch oder Deutsch spreche ich nicht. Ich habe Angst, keinen Job zu finden. Wie soll ich mich dann um meinen Sohn kümmern? Dazu kommt die Sorge um meinen Mann, der irgendwo im Donbass kämpft und zu dem ich wenig Kontakt habe. Und meine Eltern, die seit Wochen in einem Bunker sitzen und nicht einmal etwas zu essen haben. Wie soll man hier ein normales Leben führen, während all das zuhause passiert?

Mein Sohn ist Teenager, er möchte zurück zu seinen Freunden. Er vermisst seinen Vater und denkt, dass wir bald zurückgehen. Ich habe es noch nicht geschafft, ihm zu sagen, dass unser Haus kaputt ist. Wie soll eine Mutter ihrem Sohn diese schreckliche Nachricht überbringen? Es zerreisst mir das Herz. Ich habe ja selbst keine Idee, wie unsere Zukunft aussieht. Ich weißt nur, dass ich alles versuchen werde, damit mein Sohn ein schönes Leben hat."


"In den Tag leben ist furchtbar"

Inna Kravehenko (36), Fotografin und Designerin aus Chmelnyzkyj

Inna kam mit ihren Kindern Ihor (11) und Zlata (8) am 6. März nach Wien. Mit dabei Dackel Bona.
Foto: www.corn.at / Heribert Corn

"Meine Hände zitterten, als ich die Whatsapp-Nachricht im Eltern-Chat las: Es ist Krieg. Die Schule fällt aus. Meine Kinder freuten sich: "Oh super, keine Schule." Sie haben gar nicht realisiert, was das bedeutet: Krieg im eigenen Land. Bei mir allerdings drehte die Gedankenspirale gleich ordentlich auf: Ich bin alleinerziehende Mutter. Ich habe vielleicht genug Geld für zwei Monate gespart, aber was passiert danach? Ich bin Fotografin, doch niemand wird meine Fotos brauchen. Da war mir klar: In der Ukraine habe ich keine Chance mehr, meine Kinder zu ernähren, ich muss das Land verlassen.

Als wir in Wien in einer Sporthalle ankamen, lernte ich Daniel kennen – einen Volontär, der uns eine Unterkunft organisierte, sich um Schulplätze für die Kinder kümmerte und immer erreichbar war. Nun lebe ich mit unseren beiden Kindern und dem Dackel in einem kleinen Haus in einer Wiener Kleingartensiedlung. Eine weitere Familie mit Kindern wohnt auch hier. Die Besitzer des Hauses kommen regelmäßig vorbei, bringen Lebensmittel, Kleidung, Schulmaterial. Die Nachbarn schenken den Kindern Süßigkeiten und bieten Hilfe an. Ich weiß nicht, wie ich diesen Menschen jemals zurückgeben kann, was sie uns geben.

Was ich aber weiß, ist, dass dieser Krieg positiv für die Ukraine enden wird. Ich hoffe nur, dass es nicht zu lange dauert. Ich bin sehr froh, dass es den Kindern hier gefällt, dass es ihnen gutgeht. Sie besuchen die Schule, lernen Deutsch. Und sie sind glücklich, wenn ich es bin.

Natürlich ist es mein Wunsch, einen Job als Fotografin oder Designerin zu finden, doch ich möchte nicht anspruchsvoll sein: Ich putze auch gerne – nicht nur, weil ich Geld verdienen möchte, sondern auch, weil ich für meine psychische Gesundheit wieder eine Aufgabe brauche. Von einem Tag in den anderen zu leben ist sehr zermürbend."

"Ich will wieder nach Hause"

Olga (45), Chirurgin aus Dnipro

Olga fuhr vier Tage lang mit dem Auto von Dnipro nach Österreich. Mit dabei: ihre drei jüngsten Kinder und zwei Katzen. Nun lebt sie mit ihrer Mutter Larissa (80) und ihren Töchtern Ksenia (12), Vasylysa (5), Masha (2) und Varvara (19) in Leobersdorf.
Foto: www.corn.at / Heribert Corn

"Mein Mann hätte sogar mit uns ausreisen dürfen, weil wir drei minderjährige Kinder haben. Doch er ist in Dnipro geblieben. Er hat sich gleich am ersten Kriegstag der Armee angeschlossen. Er sieht es als seine Aufgabe an, seine Stadt und sein Land zu verteidigen. Das muss ich so akzeptieren.

Ich bin Chirurgin, mit dem Start der russischen Invasion habe ich dann als Volontärin gearbeitet: Ich habe Medikamente oder Tierfutter geliefert, Kranke versorgt und Blut gespendet. Ich habe lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass ich mit den Kindern nicht bleiben kann. Als die Stadt immer stärker bombardiert wurde, war klar: Ich muss meine Kinder retten. Wir haben aber nicht alle ins Auto gepasst, deshalb musste ich meine älteste Tochter Varvara (19) und meine 80-jährige Mutter zunächst zurücklassen. Das war das schlimmste Gefühl meines Lebens.

In Österreich leben wir nun seit vier Wochen in einem kleinen Haus in Leobersdorf/Niederösterreich. Die Menschen hier sind unglaublich hilfsbereit und lieb. Wir werden mit Lebensmitteln, Kleidung, Spielzeug und Schulsachen versorgt. Die Schule, die meine Tochter besucht, hat ihr sogar einen Laptop geschenkt. Vor zwei Wochen sind endlich meine älteste Tochter und meine Mutter nachgekommen.

Ich habe trotzdem fest vor, dass wir Ende Mai nach Dnipro zurückkehren, ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Was mich schockiert: Manche Menschen hier halten das, was in der Ukraine passiert, für Fake. Sie fragen mich, ob es denn dort wirklich so schlimm sei. Ja, ist es! Dieser Krieg ist echt. Die Männer von drei guten Freundinnen wurden getötet. Aber die Ukraine wird gewinnen. Ich glaube an unsere Armee mehr als an Gott. Sie hat uns in dieser Zeit immer beschützt.

Ich hoffe, dass mein Mann überlebt und wir als Familie wieder in Frieden zusammen leben dürfen."

"Ich versuche, stark zu sein"

Oleksandra (36), Politikwissenschafterin aus Tscherkassy

Oleksandra und ihre beiden Kinder Anna (15) und Volodymyr (8) sind seit 8. März in Wien.
Foto: www.corn.at / Heribert Corn

"Es war ein kurzes Telefonat, aber es hat mein ganzes Leben verändert. Mein Mann rief mich am Morgen des 24. Februar an und sagte: 'Du musst sofort das Land verlassen!' Ich hatte erst seit einigen Monaten den Führerschein, trotzdem habe ich meine beiden Kinder ins Auto gepackt und bin los. Die Straßen raus aus Tscherkassy waren völlig verstopft. Alle wollten in den Westen. Wir haben drei Tage bis zur slowakischen Grenze gebraucht, ich war mit meinen Nerven am Ende.

Jetzt teile ich mir mit meinen Kindern und einer anderen geflohenen Familie eine Wohnung in Wien. Das Leben hier ist ganz anders als zu Hause. In der Ukraine habe ich an der Universität als Professorin für Politikwissenschaft gearbeitet, war als politische Beraterin tätig und habe eine Kolumne für ein ukrainisches Magazin geschrieben. Ich hatte eine Karriere. In Österreich bin ich nur eine geflüchtete Mutter, das belastet mich. Ich fange wieder von ganz vorn an. Aber ich bin nicht nach Wien geflohen, um rumzusitzen und zu trauern. Schon kurz nach meiner Ankunft habe ich Bewerbungen an sämtliche NGOs, Unis und politische Parteien geschickt. Ich will arbeiten. Natürlich hoffe ich, dass der Krieg bald zu Ende ist. Aber sollte er länger dauern, müssen meine Kinder und ich uns in Österreich integrieren.

Vor unserer Flucht haben wir uns zwei Wochen lang in einem Keller vor den Bomben versteckt. Die Sirenen gingen oft mitten in der Nacht los, uns blieben dann nur zehn Minuten, um uns zu verstecken. Irgendwann wollten die Kinder lieber gleich im Keller schlafen. Solche Erfahrungen machen etwas mit Kindern. Ich muss ihnen jetzt Sicherheit vermitteln, also gehen wir ins Museum, in den Zoo oder Prater. Sie sollen spüren, dass das Leben hier für uns weitergeht.

Ich vermisse meinen Mann und fühle mich allein. Ich bin traurig, aber für meine Kinder will ich stark bleiben und nach vorn schauen." (Protokolle: Nadja Kupsa, 8.5.2022)