"Nirgendwo auf der Welt ist das Schienennetz dichter als in Europa", halten die Reisejournalistin Veronika Wengert und der Zugexperte Jörg Dauscher gleich in der Einleitung ihres neuen Buchs "Nachtzugreisen" fest. Zwischen Portugal und Russland, zwischen Norwegen und Griechenland seien rund 300.000 Kilometer Schienen verbaut – das reicht fast achtmal um die ganze Welt.

So alt, so jung

Auf diesem schönen, bunten und unvergleichlich dicht besiedelten Fleckchen Erde stehe zudem alle paar Hundert Kilometer eine Hauptstadt samt Hauptbahnhof unmittelbar im Zentrum, schreiben die beiden. In den letzten 150 Jahren wurde so eine Infrastruktur geschaffen, ausgebaut, erhalten und modernisiert, wie sie heute weder planbar noch durchsetzungsfähig wäre. "Sie ist da, sie ist fertig, und sie kann genutzt werden – auch und gerade nachts!", halten die Autorin und der Autor fest. "Und so alt sie ist, so jung wirkt sie dieser Tage: Nichts ist nachhaltiger und klimaschonender als Zugfahren." Sie rechnen vor: Ein Schlafwagen habe etwa 40 Plätze, eine einzige Zuggarnitur ersetze zwei vollbesetzte Flüge mit einem Airbus 320.

Mit Genugtuung stellen sie fest, dass Nachtzüge eine Renaissance erleben, und haben sich mit ihrem Reisebildband der Aufgabe gestellt, die 25 schönsten Strecken Europas – von Norden nach Süden, von West nach Ost und umgekehrt – zu beschreiben und zu bebildern. Sie liefern Details zu Fahrplänen, Routen, Sehenswürdigkeiten, Tipps und liefern darüber hinaus Anekdoten rund um Nachtzüge, in welchen Filmen sie eine Rolle spielen, welche Verbindungen sie vermissen, aber auch Hoppalas, die ihnen schon einmal auf Zugreisen passiert sind, et cetera.

Der Nightjet der ÖBB hat zweifellos zur Renaissance der Nachtzüge in Europa beigetragen.
Foto: ÖBB/Marek Knopp

Sie nehmen uns mit zu ihren Lieblingsorten in Europa, etwa auf einen Café au Lait nach Paris (das von Wien aus, eh klar, mit dem Nachtzug zu erreichen ist), zum Grachten-Bestaunen nach Amsterdam (ebenfalls von Wien oder Innsbruck mit dem ÖBB-Nightjet ansteuerbar), durch Transsilvanien (etwa mit dem Euronight Ister von Budapest nach Bukarest, einem von drei Nachtzügen, die Budapest und Bukarest verbinden), in die Mitternachtssonne (mit dem ab Sommer 2022 verkehrenden SJ Euronight ab Hamburg nach Stockholm oder mit dem Snälltåget ab Berlin, mit dem man bis nach Åre fahren kann) beziehungsweise in die arktische Wildnis am Polarkreis (mit dem SJ Nord nach Oslo und von dort bis – fast – zu den Lofoten). Detaillierte Beschreibungen inklusive.

Interessant sind neben den beschriebenen Hauptrouten auch die Nebenstrecken, die im Buch erwähnt werden. Etwa die Route London–Cornwall, die der luxuriöse Night Riviera Sleeper bedient, mit dem man Freitag- und Samstagnacht von London-Paddington nach Cornwall kommt. Dort ist es so mild, dass Palmen wachsen und neuerdings Champagner produziert werde, also Schaumwein, weil Champagner darf man dazu ja nicht sagen.

Das Buch macht Lust, selbst einmal einen Nachtzug zu besteigen.
Foto: Getty Images/iStockphoto/helivideo

Wer auf einem Abschnitt des legendären Orient-Express dahinschaukeln möchte, der sei mit der Strecke Sofia–Istanbul gut bedient, meinen Autorin und Autor. Allerdings ohne den Komfort des Luxuszugs, dafür zu unschlagbaren Preisen, obwohl die Vierer-Couchettes und die Zweierabteile alles andere als unkomfortabel sind, wie man liest. Allerdings wurde die Verbindung (560 Kilometer, elf Stunden) pandemiebedingt noch nicht wiederaufgenommen und auch kein Datum dafür kommuniziert, merken Veronika Wengert und Jörg Dauscher an. Aktuelle Infos gibt's hier.

Apropos Orient-Express: Den einen Orient-Express gibt es gar nicht, halten die beiden fest. Zunächst gab es die 1883 eröffnete Linie von Paris nach Istanbul, später ab London, noch später ab Ostende. Von 1920 bis 1962 verkehrte der Simplon-Orient-Express (SOE) über Venedig in die Türkei, benannt nach dem Schweizer Simplontunnel. Und jetzt kommt's: Letzterer rollt noch! 2022 verkehren die blauen Waggons an genau einem Termin von Prag über Berlin und Paris nach London – und zwar mit dem Originaldekor und Originalservice, nicht jedoch zum Originalpreis. Auch in umgekehrter Richtung buchbar. In anderen Jahren geht es schon mal nach Venedig oder noch weiter bis zum ursprünglichen Ziel Istanbul.

Luxuriös geht's im Simplon-Orient-Express zu.
Foto: imago/ZUMA Press

Reisen in "Samt und Seide" könne man zum Beispiel im Majestic Imperator, der von Wien aus nach Opatija rollt. Allerdings nur zweimal im Jahr. Er transportiere die "Noblesse der königlich-kaiserlichen Monarchie": Mit insgesamt sieben ebenso prachtvoll wie originalgetreu restaurierten Waggons lasse der Hofzug keine Wünsche offen, liest man. "Die Fahrt hat natürlich ihren Preis, kann aber im Paket mit einem Aufenthalt vor Ort gebucht werden", schreiben die Autorin und der Autor.

Berge und Meer

Etwas profaner ist die Reise mit dem Alpen-Sylt-Express. Von Salzburg und Lörrach/Basel geht es ab Anfang Mai bis Ende Oktober jeweils zum Wochenende über München und Nürnberg beziehungsweise Karlsruhe und Frankfurt am Main nach Sylt und zurück. Hamburg wird morgens erreicht, von dort kann man auch elegant gen Kopenhagen oder in Richtung Stralsund und Rügen umsteigen. Schlaf- und Liegewagen sowie die On-Board-Verpflegung fallen zeitgemäß pragmatisch aus, der eigentliche Luxus bestehe darin, über Nacht ohne weiteren Zwischenhalt 1.000 Kilometer Strecke zu machen, liest man. Freitagabend ist Hinfahrt, am Samstag geht es zurück: ideal also für eine oder zwei Wochen Urlaub in den Bergen oder am Meer – je nach Sichtweise.

Fazit: Dieses mit zahlreichen Farbfotos ausgestattete Reisebuch macht Lust, selbst einmal in einen Nachtzug zu steigen. (max, 9.5.2022)

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