Ein Erneuerer der italienischen populären Musik: Domenico Modugno, der unter anderem für "Volare" verantwortlich war.

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Wer in Brooklyn durch die 5th Avenue geht, kann auf Hausnummer 248 in der Trattoria "Al di là" hervorragende Malfatti essen. In Deutschland dröhnt ein "Finale oh-ho" durchs Fußballstadion, wenn das heimische Team das Endspiel eines Turniers erreicht hat. Und wer an einem Strand liegt, die Füße im Sand spürt und durch die Sonnenbrille zum Horizont blickt, wird häufig ein "Gente di mare" aus einem kleinen Lautsprecher beim Getränkestand weiter hinten hören.

Kaum ein anderes Land konnte in der Geschichte des Eurovision Song Contest so viele Welthits verbuchen wie Italien – ohne dass diese Songs den Wettbewerb selbst gewannen. Zahlreiche Songs sind ins popkulturelle Gedächtnis eingeschrieben, obwohl internationale Jurys die Songs punktemäßig missachteten.

Platz drei beim ESC, Platz eins in den USA

Beim Sanremo-Festival trat am 30. Jänner 1958 ein Erneuerer der italienischen populären Musik auf, dessen Wirkung bis heute den italienischen Pop maßgeblich beeinflusst. Domenico Modugno war damals 30 Jahre alt und präsentierte das Lied "Nel blu dipinto di blu". Noch nie hatte ein Sänger beim 1951 gegründeten Festival an der ligurischen Küste einen selbstgeschriebenen Song gesungen. Der Cantautore gewann das Festival fulminant.

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Mit diesem Sieg bekam Modugno das Ticket, um sein Land beim dritten Eurovision Song Contest 1958 im niederländischen Hilversum zu vertreten. Er bekam die Startnummer eins zugesprochen, der Song landete am Ende nur auf dem dritten Platz. Während das französische Siegerlied "Dors mon amour" von André Claveau nur noch unter Song-Contest-Aficionados bekannt ist, sollte der italienische Song ein Welthit werden und Platz eins in den amerikanischen Charts erreichen, tausende Male in zahllosen Sprachen weltweit gecovert und noch immer in den Fußballstadien gesungen werden. Bekannt wurde "Nel blu dipinto di blu" vor allem aufgrund eines Wortes aus dem Refrain: "Volare".

Beflügelt von diesem Erfolg nahm der in Apulien geborene Modugno 1959 wieder teil. Und wieder sollte sein Beitrag "Piove" Sanremo gewinnen. Wieder konnte sein Song beim Eurovision Song Contest die Jurys nicht überzeugen und wurde nur Sechster. Wieder wurde der Song unter einer anderen Textteile aus dem Refrain populär: "Ciao ciao bambina". Und wieder wurde der Song ein Welthit, zahlreich gecovert und war der kommerzielle Sieger des Song Contest 1959.

1966 versuchte Domenico Modugno es übrigens noch ein drittes Mal mit dem Lied "Dio come ti amo". Nach dem Sieg bei Sanremo wurde der Song noch vor dem Eurovision Song Contest ein Hit, allerdings vor allem in der Interpretation von Gigliola Cinquetti. Die Jurys ignorierten dieses Mal so grausam wie nie zuvor: null Punkte, während Udo Jürgens den ersten Sieg Österreichs sicherte.

Weitere Hits und erster Sieg der frühen Jahre

Das Schicksal der überhörten Welthits war nicht auf Domenico Modugno beschränkt. Viele weitere italienische Titel landeten höher in den Charts als bei den Jurys des Song Contest. Als Beispiele seien "Romantica" von Renato Rascel (1960), "Al di là" von Betty Curtis (1961), "Marianne" von Sergio Endrigo (1968) oder "Occhi di ragazza" von Gianni Morandi (1970) genannt.

Gigliola Cinquetti brach dann aber das Eis der Jurys des Eurovision Song Contest. In Kopenhagen konnte die damals erst 16-jährige Sängerin mit "No ho l’età (per amarti)" überzeugen und siegen. Im Lied singt sie, sie sei noch zu jung für die Liebe. In späteren Interviews beklagte Cinquetti die Prüderie dieser Zeit. "Non ho l’età" wurde jedenfalls ein Hit in zahlreichen Sprachen. 2014 sollte der Song zudem eine politische Rolle spielen. Der erst 39-jährige Matteo Renzi präsentierte sich als frisch gekürter Ministerpräsident im Senat, für den ein passives Wahlrecht von 40 Jahren gilt. Er las Textzeilen aus dem Lied vor.

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Der ESC hatte auf die internationalen Erfolge der frühen italienischen Songs jedoch womöglich gar nicht so viel Einfluss. Das Sanremo-Festival war gerade in den frühen Jahren ein häufiger internationaler Hitlieferant. Sogar Songs, die nicht einmal in Sanremo gewinnen konnten, wurden internationale Erfolge. Man denke an "Quando quando quando" oder "You Don't Have to Say You Love Me", bekannt geworden durch Dusty Springfield, Cher und Elvis Presley. Das Original "Lo che non vivo (senza te)" stammt von Pino Donaggio und schaffte es in Sanremo 1965 nicht auf das Siegerpodest.

Al Bano & Romina Power, Ricchi & Poveri, Alice & Battiato, Umberto Tozzi & RAF

Die Siebziger und Achtziger änderten Italiens Auftreten beim ESC. Seit 1969 galt nicht mehr das Sanremo-Festival als Fundus, aus dem der Beitrag und/oder der Interpret bzw. die Interpretin für den europäischen Wettbewerb ausgewählt wurde, sondern zuerst das Festival Canzonissima, später setzte der italienische Sender Rai nur noch auf eine interne Auswahl.

Trotzdem waren viele Acts danach wieder in den Charts Europas vorzufinden, wenn auch nicht immer unbedingt mit den ESC-Beiträgen.

Al Bano & Romina Power waren Dauergäste in allen Schlager-TV-Shows Europas, und Hits wie "Felicità" sind heute noch Evergreens. Beim Eurovision Song Contest trat das Duo 1976 ("We'll Live It All Again") und 1985 ("Magic, Oh Magic") an, um beide Male den siebenten Platz zu erreichen.

Ebenfalls berühmt wurden Ricchi e Poveri. Ihr Beitrag zum Eurovision Song Contest 1978, "Questo amore", war zwar noch nicht von Erfolg gekrönt, in den Folgejahren schafften es aber unzählige Songs in die Charts.

Eine besondere Stellung im Reigen der italienischen Beiträge hat der Song "I treni di Tozeur" von Alice und Franco Battiato aus dem Jahr 1984. Alice war seit ihrem Sanremo-Sieg 1981 bereits ein Superstar in Europa, allen voran in den deutschsprachigen Ländern. "Per Elisa" war ebenso ein Hit wie ihr Duett "Zu nah am Feuer" mit Stefan Waggershausen im Jahr 1984. Der 2021 verstorbene Cantautore Franco Battiato galt wiederum als ein künstlerisch besonders herausragender Komponist und Songschreiber, nicht nur von Popmusik.

"Gente di mare" von Umberto Tozzi und RAF wurde 1987 ein Sommerhit, nachdem es beim Eurovision Song Contest in Brüssel den dritten Platz erreicht hatte. Dies gelang dem irischen Sieger Johnny Logan mit "Hold Me Now" zwar auch, aber der italienische Beitrag verkörperte ein Sommergefühl, das bis heute funktioniert. Das Lied notierte neun Wochen in den österreichischen Charts.

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Insieme und die lange Pause

In Zagreb 1990 konnte Italien zum zweiten Mal beim Eurovision Song Contest triumphieren. Das Lebensgefühl nach den Revolutionen in Osteuropa und dem Mauerfall beschrieben einige Songs, etwa "Keine Mauern mehr" von Simone aus Österreich oder "Brandenburger Tor" von Ketil Stokkan aus Norwegen. Doch niemand konnte das so eindringlich und überzeugend wie Toto Cutugno mit seinem Siegerlied "Insieme: 1992". Sein "unite, unite Europe" erklingt heute noch, wenn es um den Zusammenhalt Europas geht. Gleichzeitig gewann er im damaligen Jugoslawien, das in diesen Jahren begann auseinanderzufallen. Die blutigen Kriege auf dem Balkan folgten bald danach.

1992 konnte die in Italien noch immer posthum verehrte Sängerin Mia Martini mit "Rapsodia" den vierten Platz erreichen. In der Gastgeberstadt, dem schwedischen Malmö, war sie vor allem in den Schlagzeilen, weil ihre Schwester Loredana Bertè damals mit dem schwedischen Tennisstar Björn Borg verheiratet war, sie also dessen Schwägerin war. "Rapsodia" erreichte den vierten Platz und gilt heute in ESC-Kreisen als einer der schönsten italienischen Beiträge überhaupt.

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Trotzdem pausierte Italien ab dem Jahr 1994 beim Eurovision Song Contest. Nur 1997 gab es eine Ausnahme, als das Duo Jalisse mit "Fiumi di parole" den vierten Platz in Dublin erreichte. Angeblich hatte die Rai einen juristischen Fehler gemacht, und Jalisse pochte auf eine Passage im Vertrag, die eine Teilnahme nach dem überraschenden Sanremo-Sieg beim ESC versprach.

Doch bis 2010 sollte Italien nicht mehr am Eurovision Song Contest teilnehmen. Nichts mehr mit "unite, unite Europe" bei der Rai.

Das fulminante Comeback

Lena Mayer-Landruts Sieg mit dem Song "Satellite" 2010 in Oslo und der internationale Hype beflügelten einige Länder zu einem Comeback 2011 in Düsseldorf. So kehrte Österreich nach einer Pause wieder zurück. Aber überschattet wurde diese Rückkehr von Italiens Comeback. Seit 2011 belegte Italien fast immer (mit nur zwei Ausnahmen) einen Top-Ten-Platz. Und wieder war das Sanremo-Festival die Basis der Auswahl – auch wenn das Festival bis heute keine Vorausscheidung darstellt.

Raphael Guallazzi, Sieger des Newcomer-Wettbewerbs des Sanremo-Festivals desselben Jahres, wurde Zweiter mit dem jazzigen Lied "Madness of Love". Der DJ Gilles Peterson förderte Guallazzi daraufhin, und bis heute tourt der italienische Musiker erfolgreich mit seiner Mischung aus Pop und Jazz.

2015 traten die Tenöre Il Volo beim Song Contest in Wien auf. "Grande amore" galt als einer der haushohen Favoriten. Bereits ihr Debütalbum konnte vier Jahre vor ihrem Song-Contest-Auftritt Platz eins in den Albumcharts zahlreicher Länder erreichen, darunter Österreich, und sie tourten mit Barbra Streisand durch Europa. Il Volo gewannen 2015 das Televoting mit großem Abstand. Nur dank der Jurys konnten sich Schweden und Russland im Endklassement noch vor den Italienern positionieren.

Weitere Künstler wie Marco Mengoni, Emma Marone, Francesca Michielin oder Fabrizio Moro sind in Italien bis heute aktive und erfolgreiche Künstler mit zahlreichen Alben, Singles und Auftritten.

Måneskin konnten dann 2021 mit dem Sieg in Rotterdam ein neues Kapitel aufschlagen und eine weltweite Karriere starten, die seit Abba und Céline Dion kein ESC-Gewinner mehr vorzeigen konnte.

Eurovision Song Contest

Die Erfolgsgeschichte Italiens scheint weiterzugehen. 2019 wurde Mahmood mit seiner gelungenen Mischung aus Cantautore-Traditionen und modernem Hip-Hop in Tel Aviv Zweiter. 2022 wird er mit Duettpartner Blanco in Turin antreten. Dieser wiederum ist einer der größten Senkrechtstarter der italienischen Popmusik der letzten Jahre. Italien ist Mitfavorit. Schon wieder. (Marco Schreuder, 5.5.2022)