Ein Federpenal allein reicht nicht: Manche Kinder sind für die Volksschule schlecht gerüstet. In Wien hapert es an Sprachkenntnissen.

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Sie nehmen in ihre Schullaufbahn eine schwere Hypothek mit: Jedes siebte Kind in einer Wiener Volksschule beherrscht nicht ausreichend Deutsch, um dem Unterricht zu folgen. Diese 10.484 als "außerordentlich" eingestuften Volksschülerinnen und Volksschüler sollen gezielt gefördert werden – und werden vorerst in jenen Fächern nicht benotet, in denen Deutsch für eine positive Note notwendig wäre.

Alles Kinder von in den letzten paar Jahren zugewanderten Familien? Mitnichten. Wie Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) in der Antwort auf eine Anfrage der Wiener ÖVP offenlegte, sind mehr als 60 Prozent der Betroffenen in Österreich geboren.

Wie kommt das? Mit der Suche nach Erklärungen fängt Migrationsforscherin Gudrun Biffl von der Donau-Uni Krems in jenen Vierteln der Stadt an, die sie "ethnische Enklaven" nennt. Während die Alteingesessenen in Neubaugebiete wie die Seestadt gezogen seien, blieben Zuwanderer unter sich und kämen problemlos ohne Deutsch durch. Die moderne Medienwelt verstärke die Segregation: Per Internet oder Satelliten-TV lässt sich die alte Heimat in die Wiener Wohnung holen.

Es sei ein Trugbild, dass es in Wien im Gegensatz zu anderen europäischen Großstädten keine Ghettos gebe, sagt Biffl und vermisst in der Wohnungspolitik eine breite Strategie zur besseren Durchmischung der Bevölkerung. Manchen Grätzelinitiativen gelinge der Brückenschluss im Kleinen, und natürlich gebe es die Multikultikultur rund um den Ottakringer Yppenplatz oder das Karmeliterviertel in der Leopoldstadt. Aber dort dominierten besser situierte Aufsteiger.

Viele andere Zuwanderer stammten hingegen aus wenig bildungsaffinen Schichten, wo Bücher und Zeichenstifte nicht zum Grundinventar der Haushalte zählen, analysiert Biffl. Frühe Förderung könnte diesen Startnachteil für die Kinder kompensieren – doch die Vorbehalte, die Kleinsten in die Kinderkrippe zu geben, seien bei Familien mit Migrationshintergrund nicht schwächer ausgeprägt als unter traditionellen Österreichern. Die Statistik der OECD zeigt: Hierzulande sind weniger unter Dreijährige in Betreuung als in allen anderen westeuropäischen Staaten.

Überforderte Kindergärten

Kommen die Sprösslinge dann mit vier in den Kindergarten, sei unter Umständen "schon viel verpasst", sagt Biffl. Die Pädagoginnen könnten den Rückstand angesichts der Ausstattung der Betreuungseinrichtungen unmöglich kompensieren: Dafür fehle es an Personal und spezieller Ausbildung.

So sieht das auch der Integrationsexperte Kenan Güngör. "Zwei Jahre Kindergarten reichen nicht aus. Ein frühestmöglicher Einstieg ist entscheidend." Hier brauche es gezielte Kampagnen, um darauf aufmerksam zu machen. Ein strukturelles Problem stelle zudem die Größe der Kindergartengruppen dar: Eine gezielte Sprachförderung für bis zu 25 Kinder bei nur einer Kindergartenpädagogin plus Assistenten sei "kaum möglich".

Zu wenige Sprachförderkräfte

Die rot-pinke Stadtregierung hat sich Ende 2020 darauf geeinigt, die Sprachförderkräfte in den Kindergärten von 300 auf 500 aufzustocken. Das ist laut Güngör "wichtig und richtig, aber nicht ausreichend". Dazu kommt, dass selbst der geplante Ausbau stockt: Zwar starteten im Herbst 2021 die ersten 50 neuen Sprachförderkräfte, weitere 50 sollen im Herbst 2022 beginnen. An der Gesamtzahl von aktuell 300 Sprachförderkräften hat sich aber noch nichts geändert, wie es aus dem Ressort von Wiederkehr zum STANDARD heißt. Dort verweist man auf "Fluktuationen" im Beruf.

Güngör wundert das nicht. Jobs im Kindergartenbereich seien unterbezahlt, aber mit hoher Arbeitsbelastung verbunden. Hier müsse "insgesamt ein Schritt in die richtige Richtung gemacht werden". Parteipolitisches Hickhack nütze niemandem.

Dass Kinder früher in die Kindergärten kommen, um Deutschdefizite zu beseitigen, benötigt aber auch die Kooperation der Eltern. Diese seien in die Verantwortung zu nehmen. "Sie müssen verstehen, dass Deutsch für ihre Kinder sehr wichtig ist." Ein vertrauensvolles Umfeld im Kindergarten könne hier vieles bewirken. (Gerald John, David Krutzler, 6.5.2022)