Mehr als drei Millionen Menschen aus der Ukraine haben seit Kriegsbeginn die Grenze nach Polen passiert. Dort erfahren sie große Solidarität.

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Russlands Angriff auf die Ukraine löst kollektive Emotionen aus und provoziert Debatten über Moral und Schuld – Themen, mit denen sich die Warschauer Soziologin Karolina Wigura seit Jahren auseinandersetzt.

STANDARD: Sie haben sich intensiv mit historischer Schuld von Staaten und mit Versöhnung in der Politik beschäftigt. Sehen Sie langfristig eine Chance für Versöhnung zwischen Russen und Ukrainern?

Wigura: Es gibt in Russland eine Minderheit, die Putin kritisch betrachtet oder sogar das Land verlässt. Es gibt aber auch jene große Gruppe, die die russische Propaganda einfach glaubt. Das müssen wir erst noch verarbeiten. Ich glaube, es ist sehr schwierig, über Versöhnung nachzudenken, während das Übel noch geschieht. Aber Russland einfach zu marginalisieren, russische Kultur und Geschichte aus dem europäischen Diskurs auszugrenzen, das kann ich mir ebenfalls nicht vorstellen. Deshalb können wir nur hoffen, dass es in Zukunft eine Möglichkeit zur Versöhnung geben wird.

STANDARD: Woran liegt es, dass die Propaganda in Russland offenbar sehr gut wirkt? Viele glauben ihr eher als ihren Verwandten in der Ukraine.

Wigura: Anfang 2021, beim Angriff auf das Kapitol in Washington, haben wir gesehen, dass es auch in Demokratien Leute gibt, die so sehr in ihren Echokammern eingeschlossen sind, dass sie die Welt völlig anders betrachten. In Putins Russland aber ist die Desinformation vom Staat organisiert. Das ist das Furchtbare. Es bringt uns die Ungewissheit darüber, was als Nächstes passiert.

STANDARD: Putin vertritt die Idee, Russen und Ukrainer seien ein geeintes Volk, lässt die Ukraine aber bombardieren. Ist diese Idee nur künstlich erzeugt? Und hat sie sich verändert?

Wigura: Solche Ideen entwickeln sich zunächst in der Longue durée, also langfristig, aber dann auch in kürzeren Zeitabschnitten. Die Idee, dass Russland für eine ganze Kultur steht, die auch mit der Ukraine und mit Belarus zusammenhängt, ist schon Jahrhunderte alt. In diesem Sinne ist sie nicht artifiziell, sie hat bereits ein langes kulturelles Leben. Darüber hinaus gibt es aber auch kurzfristigere Entwicklungen. Putin ist derzeit sozusagen die Personifizierung dieser Idee. Er hat aus ihr eine Ideologie gemacht.

STANDARD: Sie beschäftigen sich auch mit Emotionen in der Politik. Wie beurteilen Sie da die Entwicklung in den europäischen Gesellschaften?

Wigura: Ich betrachte sie mit Sorge. Am Anfang sah es so aus, als würde der Krieg viele kollektive Ängste verursachen: In Osteuropa war es vor allem die Angst vor den Russen und davor, dass sie unsere Länder und unsere Unabhängigkeit ein weiteres Mal zerstören. In Westeuropa war es eher die Angst vor einem dritten Weltkrieg. In gewissem Sinne standen diese Ängste in Konkurrenz zueinander, aber es gab immerhin einen Dialog. Jetzt aber sehe ich, dass es immer mehr moralische Arroganz gibt. Viele Politiker tun nun so, als ob sie die einzige moralisch richtige Lösung gefunden hätten. Es entsteht eine Konkurrenz von Arroganzen.

STANDARD: Ihr Heimatland Polen steht seit langem in der Kritik der europäischen Partner, vor allem im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit. Nun nimmt Polen viele Flüchtlinge auf und wird durch die große Unterstützung für die Ukraine sehr positiv wahrgenommen. Deutet sich da eine Neupositionierung in Europa an, oder werden die alten Probleme nur verdeckt?

Wigura: Es gibt einen Unterschied zwischen Regierung und Bevölkerung. Ich bin stolz auf das, was die polnische Gesellschaft jetzt tut, dass viele etwa ihre Privatwohnungen als Unterkünfte anbieten. Aber was hat der Staat getan? Er hat die Grenze geöffnet, das war natürlich sehr gut. Aber die große Mehrheit der Dinge wurde von der Zivilgesellschaft organisiert, nicht von der Regierung.

STANDARD: Die polnische Gesellschaft ist aber auch in sich polarisiert. Kann die Solidarität mit der Ukraine helfen, diese Spaltung zu überwinden?

Wigura: Ich hoffe es. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen einander ansehen und verstehen, wie stark all jene sind, die nun Toleranz und Solidarität zeigen. Und dass das nicht nur Liberale sind, sondern eben auch konservative Teile der Bevölkerung. (Gerald Schubert, 6.5.2022)

Karolina Wigura (41) ist eine polnische Soziologin und Ideenhistorikerin. Sie ist Professorin an der Universität Warschau, Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin sowie Mitbegründerin der polnischen Zeitschrift und des Thinktanks Kultura Liberalna.
Bartek Molga