Der Pazifismus ist ins Straucheln gekommen. Dabei braucht ihn die Welt gerade jetzt.

Zeichnung: Armin Karner

"Was machen Sie, wenn der Russe droht, Ihre Mutter zu vergewaltigen?" In den 1980er-Jahren wurde dieser Satz als eine der "Gewissensfragen" kolportiert, die jungen Männern, die Zivildienst leisten wollten, vor einer Kommission gestellt wurden. Wahlweise konnte "der Russe" auch hinter einem Gebüsch hervorspringen und die ganze Familie bedrohen. Würde man eine zufällig herumliegende Kalaschnikow dann nicht verwenden?

Eine Frage, die keinen Pazifisten besonders in Bedrängnis bringen muss. Denn es gibt und gab mehrere Arten des Pazifismus, auch jene, die Notwehr nicht ausschließen. Prinzipiell werden aber Krieg als Mittel der Auseinandersetzung sowie Aufrüstung und militärische Ausbildung abgelehnt. In Österreich gab es den Zivildienst als Alternative zum Militärdienst erst ab 1975. Bis 1991 musste man vor besagter Kommission darlegen, was die eigenen "Gewissensvorbehalte" gegen den Dienst an der Waffe waren.

Eine Frage des Gewissens

Heute noch spricht der Staat vom Zivildienst als Alternative für jene, die durch die "Leistung des Wehrdienstes in Gewissensnot geraten würden". Die Kommission war gar nicht so ohne. Jungen Männern, die sich Pazifisten nannten, wurde das nicht einfach so geglaubt. Es gab religiöse Gründe, etwa die Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas, oder man musste glaubhaft vermitteln, dass man durch Psyche oder Charakter nicht in der Lage war, einen anderen Menschen zu töten. Da wurde etwa der Pfarrer aus dem Heimatdorf mitgebracht, andere brachten ins Spiel, dass sie schon bei den Pfadfindern oder anderen Jugendorganisationen für den Frieden unterwegs waren. Studenten seien im Vorteil gewesen, "weil sie oft eloquenter waren als ein Bauernbub, der nicht zum Heer wollte", erinnert sich ein Bundesheeroberst an diese Zeit.

Abwägung im Einzelfall

Letztlich sei es immer eine Abwägung im Einzelfall gewesen, so der Oberst. Oder der Kandidat hatte einfach das Pech, einen der letzten Termine des Tages erhalten zu haben. Denn als ungeschriebenes Gesetz gab es auch eine gewisse Quote an Zivildienern, die man akzeptierte. War diese erfüllt, hatte man schlechtere Karten. Der Pazifismus war einer Jugend im Kalten Krieg jedenfalls nicht nur sympathisch, er war als moralische Instanz anerkannt.

Das war einmal. Derzeit stehen die Aktien des Pazifismus im öffentlichen Diskurs schlecht. Von einer Zeitenwende ist die Rede, sogar vom ersten Krieg seit 1945 "mitten in Europa". Zehn Jahre Balkankrieg bleiben da einfach unerwähnt, denn damals sahen sich die EU-Staaten nie selbst einer solchen Bedrohung ausgesetzt wie nun durch Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Jene, die mit dem Aggressor und Kriegsverbrecher bis vor kurzem gute Geschäfte gemacht hatten, stehen dabei scheinbar fast weniger am Pranger als jene, die sich laut für den Frieden und gegen Aufrüstung aussprechen.

Im Eck der Putinisten

Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten wurden von Teilen der Gesellschaft immer schon belächelt. Dass sie nun aber ins Eck von Putin-Verstehern und Schwurblern gedrängt und gar zu Feinden erklärt werden, sollte eine demokratische Gesellschaft alarmieren. Es gibt einen Unterschied darin, ob man Verschwörungstheorien und russischer Propaganda glaubt oder ob man vor allgemeiner Aufrüstung warnt. Doch dieser Unterschied wird nicht immer gemacht. Nicht gerade überzeugend argumentierende Kunstschaffende und Intellektuelle – wie zuletzt im sogenannten Emma-Brief – helfen ernsthaften Überlegungen, wie man mit möglichst wenigen Toten Frieden erreichen könnte, nicht gerade. Aber deshalb sollte der Friedensdiskurs nicht beendet werden.

Philosophische Vorarbeit

Die Vorarbeiter der Friedensbewegung kamen aus der Philosophie. Immanuel Kant verfasste seine Schrift Zum ewigen Frieden 1795 formal wie einen Friedensvertrag.

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Der Philosoph Immanuel Kant (Gravur von 1882) verfasste die einflussreiche Schrift "Zum ewigen Frieden".
Foto: Getty Images

Er beschrieb das von Vernunft geleitete Handeln aller Beteiligten als Notwendigkeit für dauerhaften Frieden. Die Charta der Vereinten Nationen wurde später von Kants moralischer Schrift beeinflusst. Schon deutlich früher, nämlich 1713, beschäftigte sich der Geistliche und Publizist Abbé de Saint-Pierre in seinem Traktat vom ewigen Frieden mit einem Europa ohne Kriege. Er beeinflusste damit Kant und den Philosophen Jean-Jacques Rousseau.

Doch das war gut hundert Jahre, bevor sich Menschen unter dem Banner des Friedens zusammenfanden. Friedensbewegungen entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuerst in den USA, Frankreich und England. Der an das lateinische Wort für Frieden, pax, angelehnte Begriff Pazifismus entstand in Frankreich. "Wir sind nicht nur friedlich, wir sind nicht nur friedfertig, wir sind nicht nur friedensstiftend. Wir sind alles zusammen und noch mehr: Wir sind, in einem Wort, Pazifisten", schrieb der Anwalt und Pazifist Émile Arnaud 1901.

Die Waffen nieder!

Erst Anfang der 1890er-Jahre wurde in Österreich die Österreichische Gesellschaft der Friedensfreunde und in Berlin die Deutsche Friedensgesellschaft gegründet. Beide unter maßgeblicher Mitwirkung der Journalistin und Schriftstellerin Bertha von Suttner und ihres Mitstreiters Alfred Hermann Fried. Mit Fried gründete Suttner auch die Zeitschrift Die Waffen nieder!. Beide erhielten später den Friedensnobelpreis.

Suttner selbst wusste als Tochter eines adeligen Generals, was Krieg bedeutete. In ihren Memoiren schrieb sie, dass sie selbst als jüngere Frau die "naive Auffassung geteilt" habe, dass "Kriege Dinge sind, die sich ebenso notwendig und regelmäßig und außer aller menschlicher Einflusssphäre abspielen wie Vorgänge im Erdinnern und am Firmament; man hat sich also darüber nicht zu ereifern".

Eine unerschütterliche Kämpferin für den Frieden: Bertha von Suttner (hier auf einer undatierten Fotografie) starb im Juni 1914. Am Tag ihrer Einäscherung wurde der österreichische Thronfolger in Sarajevo erschossen. Wenig später brach der Erste Weltkrieg aus.
Foto: APA/dpa - Bildfunk

Ihre Mitstreiter waren keine verträumten Fantasten oder Hippies ihrer Zeit. An der ersten Haager Friedenskonferenz 1899, die Suttner mit vorbereitete, nahmen Regierungsvertreter aus 26 Staaten teil. Der Weltfriedenskongress in München 1907, an dem sie als Frau auch selbst teilnehmen konnte, versammelte Politiker, Anwälte, Industrielle, Bankiers und Publizisten. Alle waren sie Pazifisten. Ein Zufall der Geschichte: Bertha von Suttners Beerdigung fand am 28. Juni 1914 statt, am Tag, als der österreichische Thronfolger in Sarajevo erschossen wurde. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs musste sie nicht mehr miterleben.

Doch Pazifismus wurde nicht nur in elitären Kreisen gefolgt. Das Symbol der Friedenstaube tauchte kein halbes Jahrhundert später auf. Der schon in der Bibel nach der Sintflut als Friedensbote einher flatternde Vogel wurde quasi als Logo vom Kommunisten Pablo Picasso erfunden. Picasso schenkte den Pazifisten und Kommunisten, die 1949 den ersten Weltkongress der Kämpfer für den Frieden organisierten, die Zeichnung einer Taube für ihr Plakat.

Der spanische Maler und Kommunist Pablo Picasso (hier auf einer Aufnahme von 1968) erfand das Logo der Friedensbewegung, die Taube mit Ölzweig im Schnabel, für Genossen, die den Weltkongress für Kämpfer für den Frieden veranstalteten.
Foto: AFP

Weitere Tauben des spanischen Malers folgten für spätere Kongresse, bis die heute ikonische mit dem Ölzweig im Schnabel als Symbol der Friedensbewegung blieb.

Eine Frage der Naivität

Naiv nennt man die Idee des Pazifismus heute wieder. Man könnte aber Naivität auch anderswo suchen. Etwa bei jenen, die glauben, dass Aufrüstung, das Milliardengeschäft der Waffenindustrie, die Menschheit auch nur mittelfristig voranbringen wird.

Wenn Pazifismus keinen Platz mehr hat und als weltfremd aus dem Diskurs gekickt wird, welche Folgen hat das? Was geschieht schon jetzt mit jenen, die weder in einen gerechten noch einen ungerechten Krieg ziehen wollen? Was passiert mit den jungen Ukrainern, die trotz Liebe zu ihrer Heimat lieber nicht mit der Waffe in der Hand kämpfen und vielleicht sterben wollen, sondern mit ihren Familien fliehen? Man muss sich ernsthaft fragen, ob sie in der vorherrschenden Stimmung künftig geächtet werden. Nicht nur in der Ukraine, sondern sogar in den Ländern, wo man ihnen Asyl gewährt. Sollte in einer Demokratie nicht jeder Einzelne die Möglichkeit haben, sich gegen den bewaffneten Kampf zu entscheiden? Oder müssen wir in Österreich konsequenterweise die Abschaffung des Zivildienstes diskutieren? Und: Darf man ein Männerbild hinterfragen, das die Geschlechter in alte Klischees zurückwirft?

Die Ukraine braucht nun Waffen, das ist evident. Aber angesichts der Milliarden, die im Windschatten der Hilfestellung nun in die Aufrüstung fließen werden, ist es legitim zu fordern, zumindest einen Bruchteil dieser Mittel in die russische Friedensbewegung oder in kritische Medienprojekte im Internet zu investieren. Das wäre eine pazifistische Antwort auf russische Trollfabriken, die Rechtsextreme in Europa unterstützten.

Hochburg des Optimismus

Pazifismus ist immer auch Optimismus. In der burgenländischen Burg Schlaining forscht und arbeitet man seit 1982 für den Frieden. Moritz Ehrmann, der Direktor des Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung (ASPR), war lange in der Friedensmediation und als Diplomat tätig. Im ASPR liegt der Schwerpunkt geografisch sonst eher im Mittleren Osten und Afrika. Eine Arbeit, die man nicht gerade als "weltfremd" bezeichnen kann. "Der Frieden ist angesichts der Ukraine gerade so weit weg, dass er in den Köpfen der Menschen zu weit hergeholt scheint", glaubt Ehrmann, "es ist in so einer Situation leichter, wenn man in kleinen Schritten denkt. Ein erster wäre ein Waffenstillstand. Der zweite wäre, Sicherheit und Stabilität wiederherzustellen." Ein Waffenstillstand sei gar nicht so unwahrscheinlich, "nämlich dann, wenn eine militärische Pattsituation entsteht".

Wenn endlich Frieden in Sicht sei, müsse man sich überlegen, "wie es mit einer europäischen Sicherheitsarchitektur weitergehen soll", sagt Ehrmann.

Spätestens dann werden sie wieder gefragt sein: Menschen, deren Geschäft der Frieden und nicht der Krieg ist. Pazifistinnen und Pazifisten. (Colette M. Schmidt, 6.5.2022)