Rotterdam ist einer der drei Häfen, die als Raffinerie-, Handels- und Lagerdrehscheibe Nordwesteuropas gelten.

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Während die Verhandlungen der EU über ein Ölembargo gegen Russland in die nächste Runde gehen, haben die G7-Staaten über das Wochenende einen nicht genauer definierten Ausstieg aus russischen Ölimporten beschlossen. Der große Wandel hat in der Ölindustrie allerdings schon in den vergangenen Monaten eingesetzt. Bereits die Angst vor potenziellen Ölsanktionen und der Druck der Öffentlichkeit, sich aus dem Geschäft mit Russland zurückzuziehen, haben die Ölindustrie dazu gebracht, etwas noch nie Dagewesenes umzusetzen: eine schrittweise Selbstsanktionierung.

"Ölunternehmen, insbesondere Ölhändler, sind nicht gerade für ihre Moral bekannt. Aber im Großen und Ganzen kaufen sie kein russisches Öl mehr, das sie nicht aufgrund von längerfristigen Verträgen kaufen müssen", erklärt Michael Carolan, Erdölanalyst bei Argus Media in London, die gegenwärtige Situation im STANDARD-Gespräch. Die Entscheidung vieler Unternehmen, russischem Öl schrittweise den Rücken zuzukehren, habe nicht nur den Markt, sondern auch ihn selbst sehr überrascht.

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Sogar der Ölriese Shell hat sich nach zahlreicher Kritik dazu entschieden, sich stärker selbst zu sanktionieren.
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Shells Kehrtwende

Obwohl es in Europa in Ermangelung eines Embargos noch völlig legal ist, russisches Erdöl einzukaufen, haben einige Firmen wie Total Energies oder BP damit begonnen, sich selbst zu sanktionieren – manche strenger als andere. Beim europäischen Konzern Shell galt bis vor kurzem ein Öldestillat nur dann als russisch, wenn mehr als 49,99 Prozent des Wareninhalts russischen Ursprungs waren. Kamen die anderen 50,01 Prozent aus einem anderen Land, ging der Rohstoff per Eigendefinition als "nicht russisch" über den Tresen.

Besonders Vorwürfe, gemischter russischer Diesel und andere Raffinerie-Erzeugnisse würden durch eine derartige Regelung einfach weiterhin in Europa verkauft werden, sorgten für Empörung. Vor etwas mehr als einer Woche lenkte Shell aufgrund vehementer Kritik schließlich ein und änderte die Geschäftsbedingungen. Der Versuch, die öffentliche Meinung zu besänftigen, indem man offiziell erklärte, keine russischen Rohstoffe zu kaufen, während man tatsächlich genau das Gegenteil tat, war nach hinten losgegangen.

"Blending"

Das Mischen, also das sogenannte Blending, von Mitteldestillaten wie Diesel ist dabei keine Neuheit. Das Vorgehen ist entfernt vergleichbar mit Beispielen aus der Lebensmittelindustrie – man denke an gemischtes Olivenöl aus der EU oder unklare Ursprungskennzeichnungen bei Honig. Gerüchten zufolge laufen derart gemischte Dieselprodukte bei Rohstoffhändlern unter inoffiziellen Namen wie die "Lettische Mischung" oder die "Turkmenische Mischung".

"Man kann sowohl auf einem Tankschiff als auch in Lagertanks Diesel mischen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zu mischen", sagt Elliot Radley, Analyst für Ölprodukte bei Argus Media, dem STANDARD. Besonders die Raffinerie-, Handels- und Lagerdrehscheibe Nordwesteuropas, die mit dem Kürzel "ARA" umschrieben wird und die Häfen Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen umfasst, ist in der Ölindustrie für das Mischen von Ölprodukten bekannt. Sobald ein Schiff in einen dieser Häfen einlaufe, könne man nicht mehr nachverfolgen, was mit der Ölladung passiere. Russischer Diesel könnte dort in Tanks sehr einfach mit Diesel aus den Raffinerien vor Ort vermischt werden. Ebenso gut könnte ein Tanker mit einer Ladung aus Russland in Rotterdam halten, um dort weiteren Diesel zu laden.

"Wenn man Geld damit verdienen kann, dass man die russische Komponente wegmischt, dann scheitert das Vorhaben jedenfalls nicht an der Logistik. Die ist vorhanden", sagt Radley.

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Eine hohe Raffineriedichte findet sich im Golf von Kachchh im indischen Bundesstaat Gujarat. Für sie ist es durchaus profitabel, verbilligtes russisches Öl für Europa aufzubereiten.
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Cui bono?

Die fortschreitende Selbstsanktionierung im Ölsektor hat auch dazu geführt, dass sich die Schiffshandelsrouten seit Russlands Angriff auf die Ukraine stark verändert haben. Russisches Öl, das bisher nach Nordwesteuropa verschifft wurde, wird nun zu Diskontpreisen ins Mittelmeer und vor allem nach Asien geliefert. Indien profitiert in mehrfacher Hinsicht von dieser Situation, da China aufgrund von Corona-Lockdowns eine geringere Ölnachfrage aufweist. Mittlerweile ist Indien sogar schon in Gesprächen mit Russland darüber, den Ölpreis weiter zu drücken. Darüber hinaus könnte russisches Öl sogar in Form von in Indien raffiniertem Diesel den Weg zurück nach Europa finden.

Den Prozess dahinter beschreibt Carolan folgendermaßen: Wenn der Preis für russisches Öl niedrig genug ist, werde es gekauft, auch wenn der Käufer nicht in Europa zu finden sei. In der letzten Zeit werde Öl vermehrt von Indien gekauft und dort raffiniert. Werde der nunmehr indische Diesel dann exportiert, "kauft Europa im Grunde russische Moleküle. Sie haben nur einen weiten Weg hinter sich."

Die russische Sorte Urals werde derzeit mit einem Abschlag von rund 35 Dollar gegenüber dem Brent-Preis gehandelt. Normalerweise beträgt die Preisdifferenz nur zwei Dollar. Russland verliere also Geld, sagt Carolan. Es sei gezwungen, das eigene Öl billig zu verkaufen, denn wenn man so viele Käufer abziehen müsse, würden "nur noch Indien, China und ein paar andere" das Öl anfassen. Trotz des langen Weges nach Asien und wieder zurück nach Europa würde sich dieses Vorgehen für indische Raffinerien lohnen – der niedrige Preis mache es möglich.

Wie geht es weiter?

Russland fördert bereits jetzt weniger Erdöl und hat die Produktion von März auf April um etwa 950.000 Barrel pro Tag gedrosselt. BP-Chef Bernard Looney geht davon aus, dass Russlands Produktion im Mai um bis zu zwei Millionen Barrel pro Tag zurückgehen könnte. Die Selbstsanktionierung in der Ölindustrie hat den Spotmarkt für russisches Öl praktisch zunichtegemacht. Die wenigen noch bestehenden langfristigen Verträge mit Russland beginnen im Sommer schrittweise auszulaufen und werden voraussichtlich nicht verlängert. Ein EU-Embargo würde die Situation für Russland weiter verschärfen und das Land in eine mit dem Iran und Venezuela vergleichbare Situation bringen.

Russland erzielt also schon jetzt weniger Einnahmen aus dem Ölverkauf. Obwohl das Land gezwungen ist, sein Öl zu Diskontpreisen zu verkaufen, gleicht der generell höhere Preis am Weltmarkt die gesunkenen Volumina derzeit noch aus. Der Rohölpreis könnte aber in ein paar Monaten theoretisch wieder fallen.

Beispiel Iran

Ein Beispiel, wie es für Russland weitergehen könnte, sind die Sanktionen gegen den Iran. Die gibt es schon seit Jahren, aber der Iran hat immer Wege gefunden, sein Rohöl zu verkaufen. "Nur nicht in den gewünschten Mengen und nicht zum gewünschten Preis", analysiert Carolan. Die Mengen, die Indien Russland abnehmen kann, sind schließlich begrenzt. Petro China ließ vor einigen Tagen wissen, dass es kein Interesse an verbilligtem russischem Öl habe und ausschließlich den bestehenden Verträgen entsprechend importiere. Am Montag teilte Russland mit, dass es im Mai mit einem Anstieg der eigenen Ölproduktion rechnet. Außerdem gebe es eigenen Angaben zufolge bereits neue Abnehmer für das russische Öl – unter anderem in Asien.

Russisches Öl wird aufgrund der Sanktionen allmählich in den Schwarzmarkt verdrängt werden, wo das Abschalten von Schiffstranspondern und Versicherungsgesellschaften aus den Golfstaaten und dem Nahen Osten das Geschäft erleichtern werden. "Den Iran hat es getroffen und trifft es immer noch. Russland wird es auch wehtun", resümiert Carolan. (Kiyoko Metzler, 9.5.2022)