Die Horrorforschung hat sich in den letzten Jahren vom asozialen, anrüchigen, manchmal auch übelriechenden Außenseiter zu einem absoluten Standard innerhalb der Literatur- und Filmwissenschaften entwickelt. Völlig zu Recht (sagt der Horrorforscher), denn Horror macht unsere Welt erst komplett. In ihm erscheint, was wir sonst nicht in den Blick kriegen. Dabei macht er bevorzugt jene Aspekte der Kultur sichtbar, bei denen wir für gewöhnlich ein (oder zwei) Augen zudrücken. Eine der spannendsten Fragen ist dabei die nach seiner nationalen Signatur. In seiner quasi verräterischen Funktion sagt der Horror mitunter mehr über den sogenannten Nationalcharakter aus, als dieser selbst wahrhaben will. Die Frage nach dem österreichischen Nationalhorror ist dabei bisher völlig offen geblieben. Durchaus aus gutem Grund, so scheint es auf den ersten Blick.

Foto: imago

Horror made in Austria

Generische Produktionen internationalen Zuschnitts wie "In 30 Tagen bist du tot", die bewährte Genreformeln mit etwas Lokalkolorit anreichern, sind in dem Zusammenhang eher wenig ergiebig. Gleiches gilt für Kultfilme wie Franz' und Fialas "Ich seh Ich seh" oder Hanekes "Funny Games", die sich durch einen dezidiert über-österreichischen Zugang auszeichnen. Klare Sache: Was den österreichischen Horror ausmacht, findet man tatsächlich nicht im österreichischen Horrorfilm. Als umso ergiebiger erweist sich dagegen die Komödie, der heimliche Zwilling des Horrors. Absolut aussagekräftig sind hier die bösen Kabarettfilme der 90er-Jahre, allen voran Sicheritz' "Muttertag". Immerhin ist der am besagten Tag immer wieder gern gesehene Klassiker – motivisch gesehen – ein astreiner Kannibalenfilm. Typisch ist dabei schon die Konstellation, die am Feiertag ihrem mörderischen Kulminationspunkt entgegenstrebt.

"Muttertag"

So droht die Familie Neugebauer am Muttertag endgültig auseinanderzudriften. Das Paar Edwin und Trude sind – gelinde gesagt – unzufrieden mit ihrer Beziehung. Edwin dackelt Evelyn nach, einer einmaligen Affäre, die nichts mehr von ihm wissen will. Trude verschafft sich ihren Kick beim "Fladern" im Gemischtwarenladen. An diesem Tag allerdings mit fatalem Ausgang. Als sie vom Kaufhausdetektiv erwischt wird, entsteht ein Tumult, aus dem Trude zwar flüchten kann – der Detektiv jedoch wird von einem verhaltensaggressiven Miteinkäufer erschossen. Damit haben Edwin und Trude immerhin eines gemeinsam: ein dunkles Geheimnis. Und somit kommt es, wie es kommen muss. Als Edwins Affäre Evelyn die beiden besuchen kommt, fürchten beide, verraten zu werden. Edwin mutmaßt, Evelyn wäre da, um seiner Frau von ihrem Techtelmechtel zu erzählen. Trude fürchtet, sie würde Edwin ihr Fahndungsbild in der Zeitung zeigen. Immerhin jetzt hält die Familie zusammen. Evelyn wird "versehentlich" mit einem Grillspieß aufgespießt und anschließend vollabsichtlich erstickt und in einen Teppich eingerollt. Finale Kannibale: Beim nächsten Grillfest wird ihre Leiche als Grillgut großzügig mit den Nachbarn geteilt, während sich die Neugebauers ganz untypisch in mehr oder weniger nobler Zurückhaltung üben.

Austrian Gothic

Um zu verstehen, was "Muttertag" als Horrorfilm einzigartig macht, lohnt sich ein Blick auf die Theorie. Irgendwie praktisch, dass auch deren Urtext made in Austria ist. 1917 prägt Sigmund Freud in seinem Essay über das Unheimliche die berühmt-berüchtigte Formel von der Wiederkehr des Verdrängten. Damit bringt er den klassischen Horror auf den Punkt. Plot-mäßig: Die nervige Großtante kehrt nach ihrem Tod aus dem Grabe zurück, um die Lebenden, nun ja, weiterzunerven (und irgendwas mit Inzest hat das freilich auch zu tun). Motivisch: Mit Dracula kehrt ein zügelloses sexuelles Begehren zurück, das die viktorianischen Spießer erfolgreich verdrängt hatten. Örtlich: der Keller, wo all die alten Geheimnisse sind (das heißt Leichen, wahnsinnige Familienmitglieder, geschändete Indianerfriedhöfe). Immer das Gleiche: Da ist irgendwas, das bitte nicht heraus- oder besser noch heraufkommen soll – und gerade deshalb umso heftiger hochkommt! Genau so funktioniert Horror. Nur bei uns ist das etwas anders.

Das Schweigen der Österreicher

"Muttertag" dreht die Genre-Formel um. Das Grillfest markiert hier nicht die schreckliche Wiederkehr des Verdrängten, sondern die unerträgliche Fortsetzung der Verdrängung. Horror heißt hier nicht, dass "es" ans Licht kommt, sondern dass die Dinge für immer unausgesprochen bleiben. Die falsche Solidarität des Schweigens erscheint hier als Leitmotiv: einerseits innerhalb der Familie. Andererseits aber auch nach außen, wo sich die Neugebauers am Ende als Einheit präsentieren. Geschenkt, dass ihnen selbst längst der Appetit vergangen ist. Wichtig ist, dass es mit den Nachbarn klappt. Typisch sind dabei auch die Handlungsmuster der Figuren: Dynamik ergibt sich nicht aus bewussten Entscheidungen, sondern aus Missverständnissen, Unfähig- und Lässlichkeiten. Die Kontrolle übernehmen die Neugebauers nur einmal. Bei der Ermordung Evelyns. Dem entspricht auch ihre soziale Situation. Diese ist dem Konzept des radical rejects entgegengesetzt, das den modernen Horrorfilm dominiert – Leatherface in "Texas Chainsaw Massacre" ist ein Opfer der dritten industriellen Revolution. Er verliert seinen Job in der lokalen Schlachterei an Maschinen und macht dann mangels Alternativen einfach mit Menschen weiter. Die Neugebauers leben dagegen in der relativen Sekurität des Gemeindebaus. Das Böse ist hier also kein Abfallprodukt, sondern ganz im Gegenteil ein konstitutiver Bestandteil der gesellschaftlichen Normalität. Das Monströse steckt hier nicht in der großen Verwerfung, im Jenseitigen und der pathetischen Idee eines totalen Verbrechens, sondern mitten im kleinen Leben, in der Halbherzigkeit und im Durchwurschteln. Damit hat man es hier nicht mit der Banalität, sondern vielmehr der Austrizität des Bösen zu tun.

Unsubtiler Subtext

Die Frage nach dem Subtext liegt auf der Hand. Die Antwort ist aufgelegt. Der österreichische Horror wurzelt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Einigkeit im kollektiven Schweigen wiederhergestellt wurde und der Sozialismus zwar materiellen Wohlstand schaffen konnte, aber an der gesellschaftlichen Aufarbeitung der traumatischen Ereignisse scheiterte. So zeigt uns der All-Time-Classic "Muttertag", dass der österreichische Nationalhorror nicht in der Wiederkehr, sondern in der Endlosigkeit der Verdrängung besteht, während die jährliche Sichtung uns (hoffentlich) auch vor Augen führt, dass wir seit 1993 in einigen Bereichen zwar schon ein gutes Stück weitergekommen sind, aber durchaus noch Luft nach oben haben – egal, ob wir dabei an unsere Familienfeier oder die Krisenkommunikation unserer Regierung denken. (Stefan Sonntagbauer, 8.5.2022)